»Das muss jetzt einmal aufhören«
Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher zieht im Interview Bilanz über das türkis-grüne Regieren, spricht über Chancen und Probleme bei der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und über die Belastung der Unternehmen durch Bürokratie. Außerdem nimmt er S
Martin Kocher: Grundsätzlich gut, aber natürlich spielt die schwächere Konjunktur in der letzten Zeit eine gewisse Rolle. Wir haben jetzt eine Phase schwachen Wachstums gehabt, und es dauert etwas länger, bis es zu einer wirklich starken Erholung kommt. Einige Faktoren liegen nicht an uns, aber haben geopolitisch und weltwirtschaftlich dazu geführt, dass ganz Europa an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Das heißt, wir müssen uns jetzt am Riemen reißen und schauen, wie wir die Energieversorgung sicherstellen und die Fragmentierung des Welthandels verhindern. Und wie wir den europäischen Binnenmarkt wieder zum Wachstumsmotor machen.
Sind Deindustrialisierung und Abwanderung also eine reale Gefahr, oder wird ein Schreckgespenst an die Wand gemalt?
Real ist, dass Länder, die wie Österreich stark vom Export abhängig sind, unter der Fragmentierung des Welthandels stärker leiden. Das darf man nicht unterschätzen. Es gibt ein paar Dinge, die man in Österreich besser machen kann, um den Wirtschaftsstandort zu stärken. Und es gibt viele Dinge, die man in Brüssel besser machen kann. Aber wir sollten den Standort nicht krankreden. In den vergangenen Jahren ist die Industrieproduktion immer wieder gewachsen. Die Basis ist gut.
Was könnte man besser machen?
Eine Herausforderung ist die Demografie, die Alterung. Es geht darum, dass wir in den nächsten Jahren genug Arbeitskräfte haben. Außerdem gibt es eine gestiegene Belastung von Unternehmen durch Bürokratie, vor allem auf europäischer Ebene. Das muss jetzt einmal aufhören. Und es wird entscheidend sein, dass die Energiepreise weiter so nach unten gehen wie in den vergangenen Monaten.
Machen die wirtschaftspolitischen Ideen der Grünen den Standort weniger attraktiv, oder ist es in Wahrheit ein Vorteil, die Wirtschaft nachhaltiger zu gestalten?
Die Balance ist entscheidend. Wir dürfen jetzt den Standort nicht durch zu viele Belastungen gleichzeitig überfordern. Langfristig profitiert Österreich aber von der Transformation in Richtung Dekarbonisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig dürfen wir jetzt nicht viele wichtige Unternehmen verlieren. Da geht es um einen pragmatischen Zugang, gar nicht so sehr um die grundsätzliche Frage. Die Ziele, was Klimaneutralität und erneuerbaren Strom betrifft, sind in der Regierung unumstritten.
Wie fällt Ihre Bilanz der vergangenen Jahre in dieser Regierung mit den Grünen denn aus?
Es sind viele Dinge gut gelungen: die Abschaffung der kalten Progression, die Ökosoziale Steuerreform, die steuerliche Besserstellung von Überstunden. In der Arbeitsmarktpolitik haben wir es geschafft, besser und rascher zu vermitteln. Wir haben viel in Richtung Bildung und Qualifizierung gemacht und zwei größere Pflegereformen zustande gebracht. Aber es braucht noch weitere Dinge: Die Belastung durch die Lohnnebenkosten ist nur leicht gesunken, da muss es in der nächsten Legislaturperiode noch mehr geben.
Sie wollten hier einen Automatismus. Warum kommt der nicht noch vor der Wahl?
Man kann sich in dieser Periode noch dazu verpflichten. Das wäre als Signal wichtig. Aber der erste Schritt kann nur mit dem nächsten Budget erfolgen. Eine etappenweise Senkung ist aus meiner Sicht über einen strengen Budgetvollzug
weitgehend finanzierbar, ohne Leistungen zu reduzieren.
Warum ist Ihnen die Reform der Arbeitslosenversicherung nicht gelungen?
Ich hätte das gern umgesetzt, aber es gab keine Mehrheit dafür. Die zwei Hauptkonfliktpunkte waren die Gestaltung des Arbeitslosengeldes, also ob man die sogenannte degressive Gestaltung verstärkt. Und, noch umstrittener: die Einschränkung des geringfügigen Zuverdienstes während des Arbeitslosengeldbezugs. Es gibt genug Studien, die zeigen, dass das die Arbeitslosigkeit verlängert. Aber da sind wir nicht zusammengekommen.
Die Grünen waren unzufrieden mit Ihrer Enthaltung beim EU-Lieferkettengesetz. Sie sagen, es wäre schwer umsetzbar. Warum?
Wir alle wollen Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verhindern. Es gibt aber Unternehmen, die haben Tausende Zulieferer aus der ganzen Welt. Die Gefahr ist groß, dass das Gesetz wegen überbordender Bürokratie ein Papiertiger wird und sich die Situation in Ländern, wo es Kinderarbeit oder Menschenrechtsverletzungen gibt, nicht verbessert.
Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man sagt: Puh, das ist uns aber zu viel Aufwand?
Um den Aufwand geht es gar nicht. In vielen Fällen ist es einfach unmöglich. Dazu kommt, dass die Richtlinie sehr stark an der Unternehmung in Europa ansetzt und nicht so sehr am Lieferanten. Ich fürchte, dass die Reaktion darauf ist, dass die Unternehmen einfach um der Dokumentation willen dokumentieren. Oder, noch schlimmer, dass gerade die Lieferketten zu kleineren Unternehmen im globalen Süden gekappt werden, die wir eigentlich schützen wollen und die sauber arbeiten.
Mit einem Punkt bei der von Ihnen vorgestellten Reform der Bildungskarenz sind die Grünen auch nicht zufrieden: dass die Bildungskarenz im Anschluss an die Elternkarenz nicht mehr möglich sein soll.
Wenn wir den Rechnungshofbericht ernst nehmen, dann muss man hier einfach Vorschläge machen. Wir haben einige Monate mit den Sozialpartnern diskutiert, und das ist das Ergebnis dieses Prozesses. Kein Ausschluss nach der Elternkarenz natürlich, aber eine klare Zielgerichtetheit.
Das wurde aber anders kommuniziert, oder?
Es geht darum, die Bildungskarenz nach einer gewissen Phase der Beschäftigung anzutreten. Vielleicht gibt es auch gewisse Ausnahmen, die man im Anschluss an die Elternkarenz machen möchte. Ursprünglich war aber nicht vorgesehen – siehe Rechnungshofbericht –, dass man eine Bildungskarenz direkt an die Elternkarenz anschließt.
Ist die Bildungskarenz nicht auch zu einer Art Burn-out-Prävention geworden? Wenn etwa eine Ärztin einfach einmal ein halbes Jahr Pause braucht, ist es für den Staat nicht besser, wenn sie in Bildungskarenz geht und danach im Beruf bleibt, als sie hört auf?
Man kann über mögliche Auszeiten diskutieren, aber nicht unter dem Schlagwort Bildungskarenz.
Themenwechsel: Österreich braucht dringend Arbeitskräfte aus dem Ausland. Sie haben angekündigt, die Rot-Weiß-Rot-Karten innerhalb von vier Jahren verdoppeln zu wollen. Aber müssen wir vielleicht auch an unserem Image arbeiten? Daran, dass man sich in Österreich als Zuwanderer willkommen fühlt?
Die Zahlen sprechen dagegen. Wir haben in den letzten beiden Jahren im Durchschnitt pro Jahr 42.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem EWR-Raum auf den österreichischen Arbeitsmarkt gebracht. Die würden nicht kommen, wenn Österreich nicht attraktiv wäre.
Es wird stark zwischen qualifizierter und irregulärer Zuwanderung unterschieden. Wieso
arbeitet man am Arbeitsmarkt nicht mehr mit jenen, die irregulär zu uns kommen?
Das wäre ein Irrweg, der das Schlepperunwesen befördern würde. Wir haben für diese Menschen schon viele Möglichkeiten, auf dem Arbeitsmarkt tätig zu sein. Mittlerweile sind die Asylverfahren kürzer, mit der Asylberechtigung gibt es vollen Arbeitsmarktzugang. Asylwerber können nach drei Monaten zu arbeiten beginnen, wenn sich keine Person mit vollem österreichischen Arbeitsmarktzugang für den Job findet. Das heißt, der Arbeitsmarkt ist in Österreich offener als in vielen anderen europäischen Ländern.
Die AUA hat diese Woche gestreikt, AUAChefin Mann warnt davor, dass Wien auch nur mit Billig-Airlines bedient werden könnte. Was sagen Sie dazu?
Ich kommentiere Kollektivvertragsverhandlungen nicht. Aber der Flughafen und die größte heimische Fluggesellschaft sind natürlich für den Standort wichtig.
Es gibt Gerüchte, sie würden Chef der Finanzmarktaufsicht. Hätten Sie Lust darauf?
Kürzlich habe ich das Gerücht gehört, dass ich Landeshauptmann werde. Da ist überall nichts dran. Noch bin ich Minister, und es ist noch einiges umsetzbar. Dann werde ich mir anschauen, wie es weitergeht.
Eine Kandidatur auf der ÖVP-Liste haben Sie für diese Wahl schon ausgeschlossen.
Das stimmt. Und ich habe ausgeschlossen, in eine Regierung mit der FPÖ zu gehen.
Sie kennen als Arbeits- und Wirtschaftsminister die Sozialpartnerschaft wohl besser als die meisten anderen. Was halten Sie angesichts dessen von einer großen Koalition?
Es geht um Inhalte und um Konstellationen, die stabil sind. Das muss in einem Koalitionsvertrag abgesichert sein. Aber das ist jetzt noch nicht meine Aufgabe.