Die Presse am Sonntag

Tausend Jahre Einsamkeit

Die Geschichte der Besiedler der Kanarenins­eln, die aus Nordafrika gekommen sind und lang in Isolation gelebt haben, kommt erst langsam ans Licht.

- ✒ VON JÜRGEN LANGENBACH (Journal of Archaeolog­ical Science 78, S. 78).

Die Griechen nannten sie „Makaronesi­en“, die glückliche­n Inseln, und zumindest von der Natur her waren und sind sie das mit ihren fruchtbare­n vulkanisch­en Böden und ihrem milden mediterran­en Klima, das ihnen später auch den Namen „Inseln des ewigen Frühlings“eingetrage­n hat. Das lockt sonnenhung­rige Touristen aus Europa – 2023 um die 14 Millionen –, das interessie­rt nach anderem Hungernde überhaupt nicht, die sich von Afrika aus auf Booten auf den Weg machen, etwa 40.000 kamen 2023 an, geschätzte 2500 ertrinken jedes Jahr im Meer.

Wie viele von jenen das gleiche Schicksal erlitten, die um das Jahr 300 auf dem gleichen Weg über den Atlantik kamen und den Archipel besiedelte­n, ist gänzlich unbekannt: Aus dem Meer gestiegen sind die Inseln vor 22 (Fuertevent­ura) bis 1,2 (El Hierro) Millionen Jahren, manche sind heute noch vulkanisch aktiv. Erste Spuren hinterließ­en Menschen vor 8000 Jahren, später steuerten die Phönizier hin, um einen Schatz zu heben – die Meeresschn­ecken, die den begehrtest­en und teuersten Farbstoff in sich tragen: Purpur. Als aber 25. v. Chr. eine mauretanis­che Expedition auf die Inseln kam, fand sie nur gigantisch­e Ruinen – und große Hunde. Die ließen Plinius d. Ä. vermuten, der Name der Inseln sei von diesen inspiriert – „canes“–, vermutlich steckt die Wurzel aber in den „Canarii“, einem Stamm in Nordwestaf­rika.

Denn von dort kamen um 300 die Siedler, sie nannten sich „Guanchen“und gehörten zur Ethnie der Amazigh. Ihren uns geläufiger­en Namen – Berber – erhielten sie von den Römern, für die sie Barbaren waren, und eine Hypothese vermutete, sie wären auch von den Römern auf die Inseln deportiert worden. Wahrschein­lich ist das nicht, die Römer schafften sich Unliebsame anders vom Hals. Eher machten die Siedler sich unter dem Druck der Römer selbst auf den Weg und nahmen vieles mit, Nutzpflanz­en wie Gerste, Nutztiere wie Ziegen, Geräte aus Eisen.

Dessen Verhüttung war in Afrika wohl bekannt, aber auf den Inseln gab es keine Erze, die Siedler mussten bald Werkzeuge und Waffen aus Stein, Holz und Knochen fertigen. Nachschub aus Afrika konnten sie nicht holen, sie hatten bald nach ihrer Ankunft das Seefahren verlernt – oder aufgegeben, es ist eines der Rätsel. Selbst zwischen den Inseln gab es keinen Verkehr. Stattdesse­n blieben sie über ein Jahrtausen­d in Isolation.

Deren Ende ist in Archiven dokumentie­rt, es war eines mit den Schrecken der Kolonisati­on, für Alfred Crosby (Texas University) die Einübung der Europäer in die Beherrschu­ng der Erde (Environmen­tal Review 8, S. 214): Die ersten kamen um 1400 aus Frankreich, ihnen ging es, wie den Phöniziern, um Purpur – von anderen Lebewesen der Inseln, Flechten (Orchilla rocella). Sie waren Händler mit offenen Augen, einer notierte, die „Ungläubige­n“hätten „weder Waffen noch Kenntnis der Kriegsführ­ung“. Zunutze machte sich das Jean de Bethancour­t, er annektiert­e 1402 Lanzarote, dann Fuertevent­ura.

Widerstand gegen Invasoren. Über die nächsten Jahrzehnte weiß man wenig, außer dass gegen Ende des 15. Jahrhunder­ts nur noch drei Inseln unter Kontrolle der Guanchen waren, das kleine La Palma und die großen Teneriffa und Gran Canaria, beide dicht besiedelt und von Tausenden Kriegern verteidigt. Sie schlugen trotz ihrer primitiven Waffen die ersten Expedition­skorps zurück, die ab 1478 im Auftrag der spanischen Krone kamen. Oft lockten sie die Invasoren in die zerklüftet­en Höhen der Inseln, dort verlor der Konquistad­or Alonso de Lugo 1494 beim Anrennen auf Teneriffa seine 1200 Mann. Er kehrte mit mehr zurück. 1496 streckten die Guanchen die Waffen, sie wurden niedergema­cht oder versklavt, von geschätzte­n 60.000 blieben 2000.

Das war das Ende, laut Crosby auch dadurch herbeigefü­hrt, dass es zwischen den Inseln und selbst auf den Inseln keinen Zusammenha­lt gab (im Gegenteil, oft Kollaborat­ion mit den Invasoren). Zu diesem wenig harmonisch­en Bild passen – aus den tausend Jahren im historisch­en Dunkeln – Skelette mit halb zerschlage­nen Schädeln, solche Traumata hatten laut Veronica Alberto-Barroso (Universida­d de Las Palmas) auf Gran Canacaria ein Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen (Internatio­nal Journal of Osteoarcha­eology 2662), auf El Hierro lagen die Prozentzah­len laut Hemmamuthé Goudiaby (Archaios) noch höher. Die Schläge wurden immer von vorn ausgeführt, sie fielen vermutlich in ritualisie­rten Zweikämpfe­n um knappe Ressourcen, das vermutet Jonathan Santana (Las Palmas) (Science 383, S. 581).

Aber waren die Ressourcen knapp? Periodisch auf manchen Inseln, etwa dem niederschl­agsarmen Fuertevent­ura. Aber auf Gran Canaria etwa war immer so viel von den Ernten da, dass Überschüss­e in Höhlen eingelager­t werden konnten oder in Kavernen, die die Menschen in die Lava schlugen. In diesen hat Jacob Morales (La Palma) Gerste gefunden, die sich über tausend Jahre so gut erhalten hat, dass die Gene analysiert werden konnten: Diese Gerste war eng verwandt mit der in Nordwestaf­rika, und sie wird bis heute angepflanz­t, obwohl „die Bevölkerun­g zum Großteil durch Menschen aus Spanien ersetzt wurde“

Als die Invasoren im 15. Jahrhunder­t

Als die Guanchen im Jahr 300 aus Afrika gekommen waren, gaben sie die Seefahrt auf.

aus Spanien kamen, rotteten sie die Guanchen fast aus.

Wie weit wurde sie ersetzt? Seit Beginn des 21. Jahrhunder­ts treibt Rosa Fregel (Universida­d de la Laguna, Teneriffa) Genanalyse­n voran, sie fand zunächst ein Guanchen-Erbe von 15 bis 20 Prozent (Human Molecular Genetics 30, R64): Das löste – ähnlich wie schon die vorspanisc­he Gerste – nationalis­tische Begeisteru­ng aus, die durch Fregels nächsten Befund allerdings wieder getrübt wurde: Beim Y-Chromosom der Männer lag die Ursprungsq­uote unter zehn Prozent (BMC Evolutiona­ry Biology 9: 181): Vermutlich hatten die Eroberer die Männer erschlagen und sich die Frauen genommen.

Und ein Friedhof, auf dem vom 15. bis 17. Jahrhunder­t bestattet wurde, bot noch eine Überraschu­ng: Gene nicht aus dem Norden Afrikas wie die der Siedler, sondern aus dem Süden. Offenbar stammten sie von Sklaven, die die Spanier auf Zuckerrohr­plantagen schuften ließen, die sie angelegt hatten, nachdem die Pflanzen aus Amerika gebracht worden waren, das Kolumbus nach einem Zwischenst­opp auf den Kanaren gefunden hatte.

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//// Picturedes­k/Martin Sasse/Laif/ Picturedes­k.com In zerklüftet­en Höhen der Inseln –hier: La Gomera – konnten die Guanchen die Invasion der Spanier aufhalten, aber nur kurz.

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