Tausend Jahre Einsamkeit
Die Geschichte der Besiedler der Kanareninseln, die aus Nordafrika gekommen sind und lang in Isolation gelebt haben, kommt erst langsam ans Licht.
Die Griechen nannten sie „Makaronesien“, die glücklichen Inseln, und zumindest von der Natur her waren und sind sie das mit ihren fruchtbaren vulkanischen Böden und ihrem milden mediterranen Klima, das ihnen später auch den Namen „Inseln des ewigen Frühlings“eingetragen hat. Das lockt sonnenhungrige Touristen aus Europa – 2023 um die 14 Millionen –, das interessiert nach anderem Hungernde überhaupt nicht, die sich von Afrika aus auf Booten auf den Weg machen, etwa 40.000 kamen 2023 an, geschätzte 2500 ertrinken jedes Jahr im Meer.
Wie viele von jenen das gleiche Schicksal erlitten, die um das Jahr 300 auf dem gleichen Weg über den Atlantik kamen und den Archipel besiedelten, ist gänzlich unbekannt: Aus dem Meer gestiegen sind die Inseln vor 22 (Fuerteventura) bis 1,2 (El Hierro) Millionen Jahren, manche sind heute noch vulkanisch aktiv. Erste Spuren hinterließen Menschen vor 8000 Jahren, später steuerten die Phönizier hin, um einen Schatz zu heben – die Meeresschnecken, die den begehrtesten und teuersten Farbstoff in sich tragen: Purpur. Als aber 25. v. Chr. eine mauretanische Expedition auf die Inseln kam, fand sie nur gigantische Ruinen – und große Hunde. Die ließen Plinius d. Ä. vermuten, der Name der Inseln sei von diesen inspiriert – „canes“–, vermutlich steckt die Wurzel aber in den „Canarii“, einem Stamm in Nordwestafrika.
Denn von dort kamen um 300 die Siedler, sie nannten sich „Guanchen“und gehörten zur Ethnie der Amazigh. Ihren uns geläufigeren Namen – Berber – erhielten sie von den Römern, für die sie Barbaren waren, und eine Hypothese vermutete, sie wären auch von den Römern auf die Inseln deportiert worden. Wahrscheinlich ist das nicht, die Römer schafften sich Unliebsame anders vom Hals. Eher machten die Siedler sich unter dem Druck der Römer selbst auf den Weg und nahmen vieles mit, Nutzpflanzen wie Gerste, Nutztiere wie Ziegen, Geräte aus Eisen.
Dessen Verhüttung war in Afrika wohl bekannt, aber auf den Inseln gab es keine Erze, die Siedler mussten bald Werkzeuge und Waffen aus Stein, Holz und Knochen fertigen. Nachschub aus Afrika konnten sie nicht holen, sie hatten bald nach ihrer Ankunft das Seefahren verlernt – oder aufgegeben, es ist eines der Rätsel. Selbst zwischen den Inseln gab es keinen Verkehr. Stattdessen blieben sie über ein Jahrtausend in Isolation.
Deren Ende ist in Archiven dokumentiert, es war eines mit den Schrecken der Kolonisation, für Alfred Crosby (Texas University) die Einübung der Europäer in die Beherrschung der Erde (Environmental Review 8, S. 214): Die ersten kamen um 1400 aus Frankreich, ihnen ging es, wie den Phöniziern, um Purpur – von anderen Lebewesen der Inseln, Flechten (Orchilla rocella). Sie waren Händler mit offenen Augen, einer notierte, die „Ungläubigen“hätten „weder Waffen noch Kenntnis der Kriegsführung“. Zunutze machte sich das Jean de Bethancourt, er annektierte 1402 Lanzarote, dann Fuerteventura.
Widerstand gegen Invasoren. Über die nächsten Jahrzehnte weiß man wenig, außer dass gegen Ende des 15. Jahrhunderts nur noch drei Inseln unter Kontrolle der Guanchen waren, das kleine La Palma und die großen Teneriffa und Gran Canaria, beide dicht besiedelt und von Tausenden Kriegern verteidigt. Sie schlugen trotz ihrer primitiven Waffen die ersten Expeditionskorps zurück, die ab 1478 im Auftrag der spanischen Krone kamen. Oft lockten sie die Invasoren in die zerklüfteten Höhen der Inseln, dort verlor der Konquistador Alonso de Lugo 1494 beim Anrennen auf Teneriffa seine 1200 Mann. Er kehrte mit mehr zurück. 1496 streckten die Guanchen die Waffen, sie wurden niedergemacht oder versklavt, von geschätzten 60.000 blieben 2000.
Das war das Ende, laut Crosby auch dadurch herbeigeführt, dass es zwischen den Inseln und selbst auf den Inseln keinen Zusammenhalt gab (im Gegenteil, oft Kollaboration mit den Invasoren). Zu diesem wenig harmonischen Bild passen – aus den tausend Jahren im historischen Dunkeln – Skelette mit halb zerschlagenen Schädeln, solche Traumata hatten laut Veronica Alberto-Barroso (Universidad de Las Palmas) auf Gran Canacaria ein Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen (International Journal of Osteoarchaeology 2662), auf El Hierro lagen die Prozentzahlen laut Hemmamuthé Goudiaby (Archaios) noch höher. Die Schläge wurden immer von vorn ausgeführt, sie fielen vermutlich in ritualisierten Zweikämpfen um knappe Ressourcen, das vermutet Jonathan Santana (Las Palmas) (Science 383, S. 581).
Aber waren die Ressourcen knapp? Periodisch auf manchen Inseln, etwa dem niederschlagsarmen Fuerteventura. Aber auf Gran Canaria etwa war immer so viel von den Ernten da, dass Überschüsse in Höhlen eingelagert werden konnten oder in Kavernen, die die Menschen in die Lava schlugen. In diesen hat Jacob Morales (La Palma) Gerste gefunden, die sich über tausend Jahre so gut erhalten hat, dass die Gene analysiert werden konnten: Diese Gerste war eng verwandt mit der in Nordwestafrika, und sie wird bis heute angepflanzt, obwohl „die Bevölkerung zum Großteil durch Menschen aus Spanien ersetzt wurde“
Als die Invasoren im 15. Jahrhundert
Als die Guanchen im Jahr 300 aus Afrika gekommen waren, gaben sie die Seefahrt auf.
aus Spanien kamen, rotteten sie die Guanchen fast aus.
Wie weit wurde sie ersetzt? Seit Beginn des 21. Jahrhunderts treibt Rosa Fregel (Universidad de la Laguna, Teneriffa) Genanalysen voran, sie fand zunächst ein Guanchen-Erbe von 15 bis 20 Prozent (Human Molecular Genetics 30, R64): Das löste – ähnlich wie schon die vorspanische Gerste – nationalistische Begeisterung aus, die durch Fregels nächsten Befund allerdings wieder getrübt wurde: Beim Y-Chromosom der Männer lag die Ursprungsquote unter zehn Prozent (BMC Evolutionary Biology 9: 181): Vermutlich hatten die Eroberer die Männer erschlagen und sich die Frauen genommen.
Und ein Friedhof, auf dem vom 15. bis 17. Jahrhundert bestattet wurde, bot noch eine Überraschung: Gene nicht aus dem Norden Afrikas wie die der Siedler, sondern aus dem Süden. Offenbar stammten sie von Sklaven, die die Spanier auf Zuckerrohrplantagen schuften ließen, die sie angelegt hatten, nachdem die Pflanzen aus Amerika gebracht worden waren, das Kolumbus nach einem Zwischenstopp auf den Kanaren gefunden hatte.