Der Mann, der England rettete
Winston Churchill, der als Premierminister Britannien durch den Zweiten Weltkrieg führte, verkörperte für die Menschen in seinem Land Stärke und Durchhaltewillen. Ohne ihn wäre die Geschichte anders verlaufen. Eine neue Biografie besticht durch Empathie u
Es gibt ein englisches Sprichwort, das sagt: „It takes two to tango.“Ohne ein harmonisierendes Duo funktioniert dieser Tanz nicht. 1940, als sich Hitler große Teile des europäischen Kontinents einverleibte, gab es ein solches: Es waren die Briten und ihr Premier, Winston Churchill. Er führte und sie folgten ihm. Er sprach zu ihnen und sie gewannen daraus Stärke, Stabilität und Gelassenheit in dem ganzen Elend dieses Krieges und angesichts einer drohenden Invasion. Jede seiner Rundfunkreden, es gab sieben davon zwischen Mai und Dezember 1940, war besser als die vorangehende.
Sie sind Teil des rhetorischen Weltkulturerbes geworden: „Wir werden ausharren, wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen, wir werden mit wachsender Zuversicht und zunehmender Stärke in der Luft kämpfen, wir werden unsere Insel verteidigen, was immer es uns auch kosten möge, wir werden uns niemals ergeben“usw. Wenn man ihn hörte, wurde deutlich: Er war da und er gab nicht nach! Dies in einer Situation, als nach der Kapitulation Frankreichs Großbritannien und sein Commonwealth allein dastanden, Hitler den englischen Städten den Bombenkrieg aus der Luft ankündigte und Londoner Regierungsmitglieder vom Waffenstillstand sprachen.
Am 10. Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich ein, an dem Tag wurde Churchill Premierminister. Dass er dazu ausersehen sei, dachte er schon in frühen Jugendzeiten. So schlief der Mann ruhig in dieser Nacht, er hatte endlich das Amt, das er immer schon ersehnt hatte, mit einer riesigen Machtfülle. Er war zugleich Verteidigungsminister, Leiter des Kriegskabinetts, Führer einer Allparteienregierung und des Unterhauses: „Mir war, als ob ich vom Schicksal geführt würde, als ob mein ganzes bisheriges Leben nichts anderes als die Vorbereitung auf diese Stunde gewesen wäre und auf diese Prüfung.“Erst nach dem Krieg sollten die nächsten Wahlen stattfinden.
Mythos. Der Mythos Churchill speist sich aus der Kraft, mit der er trotz der scharfen Kritik, die er auch ertragen musste, Britannien durch den Zweiten Weltkrieg führte. Das machte ihn vorübergehend zur unangefochtenen Ikone: der Mann, der Nazi-Deutschland in die Knie zwang. Indem sie ihn ohne Wenn und Aber hochleben ließen, feierten die Briten sich selbst, ihre Nation. Er gab ihnen einen Grund, an etwas zu glauben, was größer war als sie selbst und wofür es sich zu leiden lohnte. So verschmolzen sie mit ihm. Kein Wunder, dass er auch zurechtretouchiert wurde: Die Aureole verträgt keine Schatten.
Auch wurde übergangen, dass mit dem Kriegseintritt von Stalins Sowjetunion und der USA die Initiative an andere Kräfte überging. Da spielte sich viel jenseits seiner Befehlsgewalt ab. Ab 1942 wurden der Wehrmacht 93 % ihrer Verluste von der Roten Armee zugefügt. Mit der Invasion in der Normandie fielen nun die großen Entscheidungen in den USA. Doch so weit musste es erst einmal kommen. Ohne Churchill wäre Großbritannien vielleicht von den Nazis erobert worden und der Zweite Weltkrieg wäre anders verlaufen.
Man wird anlässlich des bevorstehenden 150. Geburtstags von Winston
Der Mann, der Nazi-Deutschland
in die Knie zwang. Das machte ihn zur unangefochtenen Ikone.
Churchill Ende November dieses Jahres viel über ihn lesen, über sein unbeugsames Heldentum ebenso wie über seine nicht wenigen kritisierbaren Eigenschaften. Für den deutschen Sprachraum gibt es bereits das große Glück einer Churchill-Biografie, wie man sie sich besser schwer vorstellen kann. Sie stammt von der prominenten deutschen Journalistin und Historikerin Franziska Augstein, die ein gewaltiges Quellenstudium absolviert hat und selbst einige Jahre in England gelebt hat. So kennt sie die Nation mit ihren Besonderheiten und auch Schrulligkeiten. Ihre Sympathie für die britische Lebensart wird deutlich, auch für die feine Rhetorik, die man auf der Insel pflegt und die in ihren Sätzen manchmal durchklingt. Wenn sie ihren Helden beschreibt, was er empfand, wie er dachte und warum er wie handelte, ist das im besten Wortsinn „einfühlendes Verstehen“,
ohne dass sie ihn schont. Es gelang ihr ein glänzender Balanceakt zwischen Empathie und Kritik.
Rhetorik. Da war sein Charakter. Sprunghaft änderte er seine Mei
nung, opportunistisch wechselte er Parteizugehörigkeiten. Stets auf seinen politischen Vorteil bedacht, strebte er wichtige Positionen an und erreichte sie auch. Er zeigte sich gegenüber Untergebenen ruppig und aufbrausend, war überzeugt, ohnehin alles besser zu wissen als die anderen. Oft wirkte er völlig prinzipienlos. Wenn einer seiner Vorgänger im Amt des Premierministers sagte: „Winston denkt mit seinem Mund“, steckt darin viel Wahrheit. Er war verliebt in seine eigene Rhetorik. Die Sprache war sein Werkzeug, das Publikum das Holz, das er bearbeitete.
Churchills Weltsicht wurde von seiner aristokratischen Herkunft bestimmt. An seinen Vorfahren, den Herzögen von Marlborough, rankte sich sein Selbstbewusstsein empor. Die Grandiosität des Schlosses, in dem er aufwuchs, war bestens geeignet zur Ausbildung eines kindlichen SuperEgos. Das half ihm, die schrecklichen Jugendjahre in Internaten, in denen man blutig geprügelt wurde, zu überstehen. Doch er wurde hier, so Augstein, „über das akzeptable Maß lädiert“.
Je älter er wurde, desto veralteter wirkte seine Rückwärtsgewandtheit. Die kalte Welt der Massendemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht mehr die seine. In der Nachwelt trübte sich das hehre Bild ein: Churchill, der Mann mit dem ausgeprägten Klassenbewusstsein, der Rassist, Frauenverächter, Kolonialist und Imperialist – all diese Facetten gab es. Es waren Eigenschaften, so Augstein, die in seiner Zeit nicht auffielen, weil sie unter weißhäutigen Briten selbstverständlich waren. Churchill stand hier für ein „kollektives Selbstbild“, von dem sich viele nicht lösen konnten, das aus einer Zeit stammte, als das Land noch
Stets auf seinen politischen Vorteil bedacht, strebte er wichtige Positionen an und erreichte sie auch.
über allen anderen Mächten thronte und die Weltkarten für den Hausgebrauch aus zwei Zonen bestanden, dem Empire und dem Rest der Welt.
Dass ihm Kriege Vergnügen bereiteten, erschien ihm selbst befremdlich, doch es war so. Er war im Burenkrieg in Südafrika und verdiente sich mangels einer Erbschaft mit Büchern und Artikeln darüber sein erstes Geld. Das setzte er fort, auch als er bereits hohe politische Ämter bekleidete. Die Arbeit der Historiker sei so wichtig, sagte er einmal, dass er sie gleich selbst übernehmen wolle. Lieber wolle er die Geschichte seiner Amtsführung selbst schreiben. So wurden viele Reden und Memoranden bereits im Hinblick auf das spätere Werk abgefasst, lang und gründlich. „Noch etwas fürs Buch“, mokierten sich seine Untergebenen, „schamlose glorifizierende Selbstdarstellung“, so Wissenschaftler.
1954 nannte die Londoner „Times“Churchill den „größten Mann aller Zeiten“. Hätte er dem zugestimmt? Am Ende seiner politischen Karriere zog er ein trauriges Fazit: „Mein Leben lang habe ich hart gearbeitet, und ich habe viel erreicht – und am Ende war alles NICHTS.“Zeit seines Lebens hatte er sich bemüht, das britische Weltreich zu erhalten und mit ihm die tradierte Gesellschaftsordnung. Das war das Fundament seiner Weltanschauung. Doch beides war nicht zu retten „Wir sind jetzt so klein. Armes England!“