Der Pflichtbewusste
Ein Nachlassverwalter? Ein türkis gefärbter Schwarzer? Ein fleißiger Parteisoldat? Karl Nehammer geht möglicherweise in sein letztes halbes Jahr als Bundeskanzler. Wie ihn das Amt geprägt hat, was er sich anders vorgestellt hat und was er noch vorhat.
Es ist ein Termin wie gemacht für Karl Nehammer, den ehemaligen Innenminister und Reserve-Offizier – auch die Sonne scheint erstmals seit Tagen wieder: die Angelobung und Ausmusterung von Polizeischülern am Donnerstag vor dem Schloss Schönbrunn. In Nehammers Rede ist viel von „Pflicht“, „Pflichtgefühl“und „Pflichtbewusstsein“die Rede. Man könnte dies auch als Sinnbild für ihn selbst sehen.
Karl Nehammer ist zu einem Gutteil ÖVP-Chef aus Pflichtgefühl, Bundeskanzler möglicherweise auch. Er könnte das letzte halbe Jahr als Bundeskanzler einfach genießen, aber es wirkt eher so – bei aller Lockerheit im Gespräch mit den „Polizistinnen und Polizisten“, wie sie Nehammer in seinem charakteristischen Sprachduktus nennt –, als ob er das Los auf sich nimmt. Wobei er natürlich schon auch den Ehrgeiz hat, wiedergewählt (genauer gesagt: erstmals gewählt) zu werden, es allen zu zeigen, den Kritikern und jenen, die ihn lediglich als Nachlassverwalter sehen.
Karl Nehammer musste das Erbe des Sebastian Kurz antreten, in zweierlei Hinsicht ein schwieriges. Zum einen ist da die Benchmark der Wahlergebnisse unter Kurz, die für Nehammer nicht zu erreichen sein werden, zum anderen die Vorwürfe dessen Ära betreffend, die nachwirken.
Auf dem Weg ins Kanzleramt sinniert Karl Nehammer später darüber, ob ihn das Amt verändert hat. „Ja, es verändert einen.“Aber es sei auch faszinierend. „Durch die Vielfalt der Themen.“Und es sei ein gutes Gefühl, „dienen zu dürfen“. Der größte Erfolg? Vermutlich jener, die Energiekrise gemeistert zu haben, dass das Gas nicht ausgegangen sei. Der schlimmste Moment? „Am Massengrab von Butscha zu stehen.“
Auch die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner und Medien sei härter gewesen als zuvor angenommen. „Ich habe gelernt, dass es keine Trennung vom Amt des Bundeskanzlers und jenem des ÖVP-Chefs gibt. Man muss bei dem, was man als ÖVP-Obmann tut, immer auch dem Anspruch genügen, Bundeskanzler zu sein.“
Ihren McDonald’s-Moment hatte diese Woche Verfassungsminister Karoline Edtstadler. Nehammer stellt nun unmissverständlich klar, dass es eine
Wochenarbeitszeit von 41 Stunden nicht
nd geben werde. Was Edtstadler gemeint habe und auch in seinem ÖsterreichPlan vorgesehen sei: dass Menschen mehr Vollzeit als Teilzeit arbeiten sollen. Und dass jede Überstunde steuerfrei sein soll.
Karl Nehammer, wiewohl ein Türkiser, ist eigentlich ein in der Wolle gefärbter Schwarzer. Er nennt Leopold Figl sein Vorbild, verteilte als Jugendlicher Werbematerial für Alois Mock, ist beim Kartellverband (Couleurname Mars), erlernte sein Handwerk beim ÖAAB und der niederösterreichischen Volkspartei.
Das Erbe von Kurz. Allerdings: Was Sebastian Kurz begonnen habe, nämlich die ÖVP zu verbreitern, sie wieder zu einer echten Volkspartei zu machen, wählbar von der Mindestpensionistin bis zum CEO, das wolle er fortsetzen. Dass die ÖVP unter ihm vielmehr zu einem ÖAAB-plus geworden sei, sieht Nehammer erwartungsgemäß nicht so. Die Partei stehe auf mehreren Säulen und bilde die Gesellschaft gut ab.
Karl Nehammer ist dennoch keiner, der über die Grenzen der ÖVP allzu weit hinauszuwirken vermag. Er ist ein Zielgruppenprogramm. „Platz eins ist drinnen, auf jeden Fall“, sagt er unverdrossen. Es gebe eine Linksradikalisierung auf der einen Seite, „mit marxistischen Konzepten“. Und ebenso eine Radikalisierung auf der Rechten „mit Verschwörungstheorien“, meint Nehammer. „Ich bin das Gegenangebot. Mit Glaubwürdigkeit und Redlichkeit.“
Karl Nehammer ist relativ geradeheraus, er ist keiner, der Journalisten umgarnt oder für sich einzunehmen versucht. Er will überzeugen. Mit Argumenten. Wenn dies nicht verfängt, kann man eben auch nichts machen. Vermutlich verhält es sich mit den Wählern ähnlich. Sein Charisma ist Fleiß.
Was Nehammer jedenfalls innerparteilich gelungen ist: die Herde trotz anhaltend schlechter Umfragewerte zusammenzuhalten. Nehammer wird intern als Motivationsredner geschätzt, zuerst für Sebastian Kurz, nun in eigener Sache.
In seiner Rede vor den Polizisten und Rekruten in Schönbrunn geht der Bundeskanzler auch auf deren anwesende Angehörige ein: Diese würden viel zu wenig gewürdigt. „Denn Sie müssen bereit sein, diesen Weg mitzugehen.“Er selbst, sagt Nehammer später, habe Glück, dass seine Frau viel Verständnis für seinen Job habe, da sie selbst aus dem gleichen Metier kommt. Katharina Nehammer war auch schon öfter in den Schlagzeilen – öfter, als ihr lieb ist. Ihren Job im Verteidigungsministerium hat sie aufgegeben, sie ist nun zu Hause. Die Kinder sind mittlerweile 13 und 15 Jahre alt. Der Stil in der Politik habe sich leider verschlechtert, findet Nehammer. Dass die Familie hineingezogen würde, hätte es früher so nicht gegeben.
Gegen die Wohnungsnot. Doch es gibt auch positive Erfahrungen: Mit Grünen-Chef Werner Kogler habe es bis zum heutigen Tag eine „ordentliche und vertrauensvolle“Zusammenarbeit gegeben. Was man nun noch gemeinsam vorhabe? Eine Wohnbauoffensive zum Beispiel. Man müsse den Linken zwar etwas entgegensetzen, jedoch manche ihrer Themen auch ernst nehmen, wie etwa die Wohnungsnot.
Es ist ein 24/7-Job, jener des Bundeskanzlers. „Die Privatheit ist auf die eigenen vier Wände beschränkt“, sagt Nehammer. Das habe er ein wenig unterschätzt, als er die Aufgabe annahm.
Nach dem Termin in Schönbrunn tauscht er sich im Kanzleramt mit Peter Launsky-Tieffenthal, nunmehr Sonderberater für globale Fragen, aus. Dann kommt Sultan Al Jaber, ein Minister aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, zu Besuch.
Am Vorabend hat Nehammer Kulturschaffende und Kulturmanager ins Kanzleramt gebeten. Der Kanzler will sich von seiner kunstsinnigen Seite zeigen. „Sagen wir es so: Schallenberg hat man das mehr abgenommen“, erzählt ein Teilnehmer. Der Außenminister hat ebenso wie der Kanzler eine Rede gehalten. „Nehammer hat aber eh nicht so getan, als wäre er der große Kunstexperte“, sagt ein anderer Gast. „Er hat das halt auf seine Art gemacht.“
Ihren McDonald’s-Moment hatte diese Woche Karoline Edtstadler.
Dazu kommen neben Auslandsreisen immer wiederkehrende Besuche in den Bundesländern, die nun wahlkampfbedingt noch intensiviert werden. Die Pressesprecherin berichtet von wohlwollender Stimmung.
Um Selfies wird Nehammer auch vor dem Schloss Schönbrunn gebeten. Zum Abschluss der Zeremonie der Wiener Polizei darf der Bundeskanzler dann auch noch selbst einen Befehl geben. Er lautet: mit „Hurra“abtreten. Ob das auch zum Sinnbild taugt, wird man am 29. September sehen.
Dass die ÖVP unter ihm zu einem ÖAAB-plus geworden sei, sieht Nehammer nicht so.