»Sieger im Ukraine-Krieg sind die USA«
Der britische Politologe Mark Leonard über die globalen Folgen des Ukraine-Kriegs, die Entwicklung der EU zur geopolitischen Sicherheitsunion, den Aufstieg Chinas und das unweigerliche Ende der amerikanischen Hegemonie.
Der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, sprach schon bald nach der russischen Invasion in der Ukraine von einer Zeitenwende. Wie verändert dieser Krieg Europa?
Mark Leonard: Die Leute überschätzten die kurzfristigen Auswirkungen der Zeitenwende, unterschätzen aber die langfristigen Folgen. Die EU wird in zehn bis 15 Jahren fundamental anders aussehen.
Wie?
Die EU wird eine Sicherheitsunion sein. Mehrere Faktoren führen zu einem geopolitischen Europa.
Welche Faktoren sind das?
Der Ukraine-Krieg verändert die DNA der EU. In den ersten 70 Jahren ihrer Existenz war die EU ein Friedensprojekt, jetzt ist es ein Kriegsprojekt – die treibende Kraft der Integration ist nun ein Krieg. Es gehörte zur europäischen Identität, nicht mehr an Hard Power zu glauben. Jetzt mag Deutschland diskutieren, welche Waffen es an die Ukraine liefert. Doch niemand zieht mehr die Bedeutung von Hard Power in Zweifel. Auch in Paris ereignet sich eine große Wende.
Eine europapolitische Wende?
Frankreich war immer sehr skeptisch, was die Erweiterung der Union anlangt. Präsident Macron hat nun verstanden, dass es kein Kerneuropa mit Pufferstaaten rundherum geben kann, die an Russland grenzen. Er hat erkannt, dass Europa nur vereint sein kann, wenn Frankreich die Sicherheitsinteressen der mittelosteuropäischen Staaten berücksichtigt und die Integration der Ukraine befürwortet.
Das ist riskant. Denn niemand weiß, ob ein erweitertes Europa funktioniert.
Im Moment ist alles riskant. Früher dachten alle, Sicherheit gehe nur Verteidigungsminister etwas an. Jetzt spielt der Sicherheitsgedanke quer durch alle Ressorts eine Rolle. Die EU hat realisiert, dass Interdependenz nicht automatisch Frieden und Harmonie schafft, sondern auch Verwundbarkeiten. Wer sicher sein will, muss Abhängigkeiten reduzieren. In Europa schlägt die Stunde der Geopolitik. Das verändert auch die Vorstellung von Souveränität.
Inwiefern?
Viele sahen die EU als etwas, das die nationale Souveränität untergräbt. Jetzt bemerken einige von ihnen, dass der einzige Weg zur Bewahrung der Souveränität die Zusammenarbeit mit anderen Europäern ist. Das hat nicht nur die neue liberal-konservative Regierung in Polen kapiert, sondern auch Italiens rechtspopulistische Ministerpräsidentin, Giorgia Meloni.
Und wie fügt sich Großbritannien nach dem EU-Austritt in diese neue geopolitische Konstellation ein?
Als EU-Mitglied versuchte Großbritannien Bemühungen zu untergraben, eine europäische Verteidigung zu errichten. Paradoxerweise hat Großbritannien nach dem Brexit erkannt, dass es die europäische Sicherheitsordnung nicht verlassen kann. Großbritannien und die EU werden nach einem Labour-Sieg bei den Parlamentswahlen im Herbst wieder näher aneinanderrücken. Sicherheit wird dabei ein treibender Faktor sein. Ich glaube aber nicht, dass Großbritannien in den nächsten Jahren der EU wieder beitreten wird.
Verschiebt sich die transatlantische Achse?
In der Vergangenheit gab es eine Trennlinie zwischen jenen, die ein strategisch autonomes Europa wollen, und jenen, die Europa als eine westliche Macht sehen, die sich auf die Nato verlässt. Jetzt erkennt man sowohl in Washington als auch in Brüssel, dass nicht ein strategisch autonomes Europa das große Problem ist, sondern ein Europa, das allzu sehr von den USA abhängig ist. Die Amerikaner wollen, dass die Europäer mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen. Egal ob Joe Biden oder Donald Trump im Weißen Haus sitzt. Auch wenn Biden diesmal gewinnt. Bei der nächsten Wahl wird unweigerlich jemand ans Ruder kommen, der sich Europa weniger verpflichtet fühlt als er.
Ist Biden der letzte transatlantische Präsident?
Ja. Schon Barack Obama war weniger transatlantisch ausgerichtet als Biden. Er reflektierte damit die Einstellungen seiner Generation.
nd Obama war auch weniger proisraelisch als Biden.
Ja. Und das wird auch auf den nächsten Präsidenten der Demokraten zutreffen. Schon jetzt empfinden die Amerikaner den Gaza-Krieg als unnötige Ablenkung. Sie haben das strategische Ziel, den Fokus ihrer Aufmerksamkeit nach Asien und in den Indopazifik zu verlagern. Wir sehen insgesamt eine langsame Reaktion auf einen strukturellen Wandel in der Welt.
Was meinen Sie damit?
Die Periode der amerikanischen Hegemonie nach dem Ende des Kalten Krieges ist vorbei. Die Welt verändert sich rasant. Die USA sind vollauf mit ihrem Wettbewerb mit China beschäftigt. Amerika wird unweigerlich Macht verlieren und muss sich entscheiden, wo es seine Macht einsetzt. Die Sicherheit Europas steht nicht mehr ganz oben auf der Prioritätenliste der USA. Die Amerikaner denken sich zu Recht, dass die europäische Wirtschaft viel größer als die russische ist, Europa mehr Einwohner hat und auch deutlich mehr fürs Militär ausgibt. Wie um Himmels willen können die Europäer langfristig rechtfertigen, dass sie Angst vor Russland haben? Das ist lächerlich.
Welcher Staat hat bis jetzt am meisten vom Ukraine-Krieg profitiert?
Vor Kurzem habe ich einem sehr wichtigen chinesischen Intellektuellen diese Frage gestellt. Er sagte: Die großen Sieger im Ukraine-Krieg sind die USA.
Warum?
Weil es den Amerikanern gelungen ist, ihre Beziehungen mit Europa zu konsolidieren, der Nato neues Leben einzuhauchen und ihre Netzwerke zwischen ihren Verbündeten in Europa und Asien auch im Hinblick auf China enger zu knüpfen.
Klingt nach Verschwörungstheorie.
Ist es aber nicht. Im Weißen Haus ist man sehr stolz auf die Konsolidierung der Bündnisse während des UkraineKriegs. Doch dann kam der Gaza-Krieg, der die USA isoliert.
China gehört freilich ebenso zu den Gewinnern des Ukraine-Kriegs.
China hat auch profitiert. Es hat Russland als Juniorpartner in der Tasche und Zugang zu billiger Energie und neuen Märkten.
Zu den Profiteuren zählen auch Länder wie Indien, die sich nicht verpflichtet fühlen, sich auf eine Seite zu stellen?
Im postamerikanischen Zeitalter haben Mittelmächte mehr Bewegungsspielraum. Indien hat erkannt, dass die USA ein Gegengewicht zu China in Asien wollen. Deshalb kümmern sich die Amerikaner wenig um autoritäre Tendenzen in Indien und ignorieren dessen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland.
Denken Sie manchmal, dass die Kriege in der Ukraine und Gaza und möglicherweise bald auch in Taiwan miteinander verbunden sind? Schlafwandeln wir in einen dritten Weltkrieg?
Wir haben es mit einer Vielzahl gleichzeitiger Krisen zu tun, die alle ihre eigene Logik haben und einander teilweise verschärfen. Doch das ist noch kein dritter Weltkrieg. Ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie eine Achse des Bösen zwischen Russland, China, dem Iran und Nordkorea gibt.
Aber sie helfen einander.
Ja, aber nicht überall. Die Länder haben unterschiedliche Interessen. Definitiv zutreffend ist jedoch, dass viele Staaten der Welt das Gefühl haben, dass die USA zu dominant gewesen sind. Es gibt ein postkoloniales Bewusstsein, das Zbigniew Brzeziński das politische Erwachen nannte.
Welchen Platz wird die EU in der neuen Weltordnung einnehmen?
In Zukunft wird der globale Anteil der europäischen Bevölkerung und Wirtschaft immer geringer werden. Wir werden weniger Einfluss haben als in den vergangenen 500 Jahren. Doch auch in den kommenden Jahrzehnten werden Europäer im globalen Vergleich phänomenal wohlhabend bleiben. Und sie haben eine Geheimwaffe: die EU. Wenn die Mitgliedstaaten kooperieren, können sie gemeinsam in einer Welt mithalten, in der China aufsteigt und sich die Macht neu verteilt. Neuseeland oder Kanada haben diese Chance nicht. Sie sind auf sich allein gestellt.