Grönland wird grün
Das immer raschere Schmelzen der Eisschilde bereitet Sorgen um Klima und Meeresspiegel, gibt aber auch alte Siedlungsräume wieder frei.
Als Erik der Rotenandno 985 das von ihm entdeckte Land „groen“nannte, war es eine Finte, um Siedler anzulocken: Grün waren nur die Ränder im Süden, dort blühten die Siedler auf, sie betrieben Landwirtschaft und jagten Walrösser – deren Elfenbein in Europa viel Geld brachte, mit dem Luxusgüter wie Glas und Messwein erworben wurden –, aber nach 450 Jahren wurde es kalt, das Land verschwand unter Eis und die Siedler verschwanden im Dunkeln, bis heute ist ungeklärt, warum und wohin.
Aber das Täuschungsmanöver hatte einen Hintergrund, den Erik nicht kennen konnte: Grönland war einmal grün, zur Gänze. Darauf kam man über das Erbe eines der absurdesten Projekte des Kalten Kriegs: 1959 legten die USA im für ewig gehaltenen Eis ein Atomwaffenlager an, getarnt als Forschungsstätte, und geforscht wurde auch, man zog Eisbohrkerne. Nach fünf Jahren war der militärische Spuk vorbei, weil die Anlage der steigenden Last des Eises nicht standhielt, inzwischen macht umgekehrt die Wärme Sorgen, der hinterlassene Müll bis hin zu radioaktivem könnte in die Umwelt gelangen (Geophysical Research Letters 069688).
Geblieben sind die Bohrkerne, an einem bemerkte man in den 1990erJahren Reste einer Tundravegetation (Pnas 13 202144118), sie waren 400.000 Jahre alt (Science 381, S. 330). Aus ähnlichen Funden konnte Paläogenetiker Eske Willerslev (Kopenhagen) das gesamte Ökosystem lesen, das vor zwei Millionen Jahren die Insel belebte: Es gab weite Wälder und viele Tiere, selbst Mastodons hatten von Amerika aus die Insel erreicht (Nature 612, S. 283).
Grönland war also einmal grün, und es ist nun dabei, es wieder zu werden, die bis zu drei Kilometer mächtigen Eisschilde fließen unter der Erwärmung immer rascher dahin: 30 Millionen Tonnen gehen pro Stunde verloren, Tim Lenton hat es aus dem Vergleich der heutigen Küstenlinie mit der auf Luftbildaufnahmen der 1930er-Jahre heraus gerechnet (Nature 625, S. 523).
Das bereitet zwei Sorgen, global die um die Erhöhung der Meere und regional die um die Klimazukunft Europas. Für Letztere hatten Forscher in den 1990er-Jahren ein Szenario befürchtet, das der Regisseur Roland Emmerich 2004 im Katastrophenfilm „The Day after Tomorrow“, in dem er Nordamerika im Eis erstarren ließ, gar nicht so übertrieben vor Augen führte: In der Wissenschaft hieß es „Global Warming, Regional Cooling“und meinte, dass durch das Schmelzen Grönlands das erdweite Transportband der Meere zum Erliegen kommen könnte. Dieser „Global Conveyor Belt“hat seinen Ursprung im Nordatlantik, wo gewaltige Wassermengen in die Tiefe stürzen, dort um die Erde wandern und als warmes Oberflächenwasser von Florida als „Atlantic Meridional Overturning Circulation (Amoc)“– vulgo Golfstrom – nach Nordosten gehen und Europa wärmen.
Kommt Kälte oder Hitze? Aber das Wasser sinkt nur, wenn es schwer ist: dicht. Und das ist es nur bei hohem Salzgehalt. Der wird durch das Schmelzwasser so gesenkt, dass das Förderband schwächelt bis stillsteht, dann wird es wegen der globalen Erwärmung in Europa kälter. So war es am Ende der letzten Eiszeit, so fürchtete man es in den 1990er-Jahren, es trat nicht ein, 2018 kam Entwarnung (Nature 599, S. 340). Sie klang endgültig, aber nun sieht Marilena Oltmanns (Southhampton) die Gefahr wieder nahen, und zwar rasch (Science Advances 23. 2.). Allerdings kam zeitgleich ein gegenteiliger Befund: Das Schmelzwasser im Nordatlantik werde Europa mit sommerlichen Hitzen überziehen, weil es die Zirkulation der Atmosphäre verändert, warnte René van Westen (Utrecht) (Weather and Climate Dynamics 28. 2.).
Ja, wie nun? Kann die Wissenschaft (sich) nicht entscheiden? Sie kann es nicht, der Komplexität des Klimas ist sie nicht gewachsen. Und die der Meere ist auch nicht ohne: Rein rechnerisch würde das komplette Abschmelzen Grönlands die Spiegel global um 7,42 Meter erhöhen. Aber zum einen sind die Meere nicht alle und überall gleich hoch – das Mittelmeer bei Triest ist um 34 Zentimeter tiefer als die Nordsee bei Amsterdam –, und zum Zweiten war ihre Höhe schwer zu messen, da das Land, von dem aus gemessen wurde, sich heben oder senken kann, erst seit 1992 bieten Satelliten ein verlässliches Bild. Es ist höchst differenziert, die regionale Höhe hängt an Strömungen und Wind, Temperatur und Luftdruck und daran, dass unter den Meeren unterschiedliche Gesteinsmassen mit ihrer Gravitation das Wasser anziehen und etwa südöstlich von Indien eine 110 Meter tiefe Delle verursachen, nördlich von Australien eine 85 Meter hohe Ausbuchtung.
Einst war die ganze Insel grün, zur Zeit der Wikinger war sie es am Rand.
Das komplette Schmelzen würde die Meere um 7,42 Meter heben, aber nicht überall.
So lässt sich nur unter Vorbehalt bilanzieren, dass die Meere vor der Jahrtausendwende um zwei Millimeter im Jahr gestiegen sind, seitdem um drei. Und in der Zukunft? Da steht bis 2100 ein Anstieg um 40 Zentimeter bis zwei Meter ins Haus, das ist die Spanne der Prognosen. Regional sieht es wieder vertrackt aus: Justament vor Grönland wird der Meeresspiegel sinken – um 30 bis 50 Meter –, er tut es heute schon. Das liegt zum einen daran, dass vom Eis befreites Land steigt, und zum anderen und vor allem daran, dass mit dem Eis dessen Gravitationskraft schwindet, Jerry Mitrovica (Harvard) hat den kontraintuitiven Befund wieder und wieder vorgetragen, der Nachweis des aktuellen Sinkens bei Grönland gelang ihm im Vorjahr (Science 377, S. 1550).
Das heißt umgekehrt, dass nicht die Vereisung der Sargnagel für die Wikinger war, sondern die damit verbundene Überflutung der Küsten, Mitrovica hat den damaligen Anstieg des Meeres auf 3,3 Meter veranschlagt (Pnas 17 e2209615120). Heute läuft die Entwicklung umgekehrt, immer mehr Land wird frei und grün: Die von Vegetation bedeckte Fläche hat sich verdoppelt, Michael Grimes (Leeds) hat es bilanziert und sieht üble Folgen, weil grünes Land mit seiner Albedo stärker wärmt als weißes Eis und weil das Grün oft aus Feuchtgebieten besteht, aus denen das Treibhausgas Methan steigt (Scientific Reports 13. 2.). Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, dass solches Grün nicht nur die Erwärmung vorantreibt, sondern die Wikinger über Jahrhunderte am Leben gehalten hat.