Als mich das Jagdkommando zwölf Stunden lang gefangen hielt
Wollte unsere Reporterin lernen. Warum Routinen helfen, »graue Mäuse« die höchsten Überlebenschancen haben und der Grat zwischen Selbstschutz und Selbstaufgabe schmal ist.
Sie sind in Sicherheit“, sagt der von Kopf bis Fuß in Tarnfarben gekleidete junge Mann. Er deutet auf eine Matratze auf dem Boden. Ich setze mich auf sie. Verstohlen mustere ich ihn. Sein Gesicht ist vermummt. Sein Kopf steckt in einem Helm. In seinen Händen hält er eine Waffe. Das Einzige, was ich sehe, sind seine dunkelbraunen Augen. Sie wirken irgendwie freundlich. Kann ich ihm glauben? Ihm vertrauen? Sagt er die Wahrheit?
Der junge Mann mahnt mich, ruhig und wachsam zu bleiben. Die Gefahr sei noch nicht komplett gebannt. Ich spüre Enttäuschung in mir aufsteigen: Noch immer bin ich in Gewalt eines Bewaffneten, wenn auch eines guten. Ich bin müde und erschöpft und sehne mich mehr als alles andere nach dem Ende. Nach den Worten: „Es ist vorbei.“
Befolgen Sie alle Anweisungen. Versuchen Sie nicht, auf das Geschehen einzuwirken. Seien Sie bereit, andere zurückzulassen. Bringen Sie sich und die Sicherheitskräfte nicht in Gefahr.
In den vergangenen zwölf Stunden habe ich erlebt, wie Ohnmacht und Ausgeliefertsein sich anfühlen, was Unsicherheit und Angst um das eigene Leben bedeuten. Es war nur ein Szenario, ein ernstes Spiel, spielerischer Ernst. Nicht zu vergleichen mit einer echten Geiselnahme, und dennoch hat sich alles sehr real angefühlt. So real jedenfalls, dass sich Vertrauen nicht so schnell wiederherstellen lässt.
Tags zuvor, als die Ausbildner Fotos von uns aufnehmen, mit einem über die Brust gehaltenen Namenszettel, ahne ich, was uns erwartet. Immer wieder lassen sie grinsend kleine Andeutungen fallen. Im Programm des Heat-Trainings ist von einer Entführung keine Rede.
Heat ist eine Abkürzung und steht für Hostile Environment Awareness Training. Diplomaten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten sind die Kundschaft dieser Kurse, in denen das Überleben in Krisen, Kriegen und Katastrophen geübt wird. Die Simulationen sollen auf reale Gefahren vorbereiten. Ich habe Erfahrung mit einer „feindlichen Umgebung“durch meine Recherchen in der Ukraine, in Russland und im Südkaukasus. Seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine ist Notfallmedizin, sind Kenntnisse über die Wirkungsweise von Waffen und das richtige Verhalten bei Beschuss erneut dringend gefragt. Das Angebot des Österreichischen Bundesheers für Journalisten kommt gerade richtig. Das Jagdkommando, eine in Wiener Neustadt basierte Spezialeinheit, soll das Training durchführen.
Vor der Entführung verbringen wir zwei intensive Tage in der Flugfeldkaserne in Wiener Neustadt und im struppigen Gras der nahen Truppenübungsplätze. Ein Schütze namens Junior zeigt uns, was verschiedene Projektile alles anrichten können. Sein Ziel, die Entzauberung der Hollywood-Mythen, hat er spätestens dann erreicht, als er Schüsse auf einen Gelatineblock mit eingeschlossenem Schweineknochen abfeuert. Ein Modell des menschlichen Körpers, sozusagen. „Einfach ein grausiges Kaliber“, sagt er zur 7,62-Millimeter-Patrone, die im Maschinengewehr eingesetzt wird. Die Gelatine ist zerfetzt. „Das MG fährt durch alles mit Vollgas durch.“Wir lernen, wie man sich aus Gafferbändern, Handschellen und Kabelbindern befreit. Wie man Landminen erkennt und wie man mit einem Tourniquet Arme und Beine abbindet. „So schnell wie möglich weit oben anlegen.“Ich erfahre, dass Birkenrinden ideal für Zunder sind und entfache mit einem Feuerstahl eine Flamme – ein Erfolgserlebnis. Die erste Nacht verbringen wir bei Sturm in einer fensterlosen Baracke. Eine notdürftig angebrachte Plane schlägt alle paar Sekunden an die Wand. Pamm, pamm, pamm. Am zweiten Tag bin ich gerädert. Die Gräser beugen sich im Wind, und wir beugen uns unserem Schicksal: Irgendwann in den nächsten Stunden wird es losgehen.
Die Gefangennahme. Als es beginnt, auf einem Feldweg in der Dunkelheit, bin ich hochkonzentriert. Schüsse, Explosionen, Geschrei. Aus einem Fahrzeug heraus werden wir gefangen genommen. Hinknien. Handschellen. Sack über den Kopf. Geld weg, Uhr weg, Handy weg. Ich lasse es geschehen. Es beginnt eine Gefangenschaft, in der ich meinen Kopf kaum mehr heben werde. Der Blick auf den Boden bietet Sicherheit vor den Augen eines Bösewichts. Verärgern Sie Ihren Entführer nicht. Beginnen Sie kein Streitgespräch mit ihm. Kompromittieren Sie Ihre Mitgefangenen nicht. Seien Sie eine graue Maus.
In der ersten Zeit sitzen wir in vollkommener Dunkelheit, an eine Mauer gekettet, mit Stoffsäcken über dem Kopf. Später werde ich den Raum sehen, von dem ich bis heute nicht weiß, wo er sich genau befindet: Linoleum, Raufasertapete, vernageltes
Der Blick auf den Boden bietet Sicherheit vor den Augen des Bösewichts.
Fenster. Die Geiselnehmer werden kommen, werden durch den Raum tigern und uns anschreien, werden uns indoktrinieren und bedrohen.
Die Instruktoren haben gesagt, man solle unauffällig bleiben und sein Ich bewahren. Doch was darf man als Geisel wollen, ohne sich und andere zu gefährden? Wo liegt die Balance zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe? Während andere aufmucken oder gar lachen, reagiere ich unterwürfig. Bin ich eine graue Maus, oder bin ich das perfekte Opfer? Was strahle ich aus: Angst? Angespanntheit? Unsicherheit? Ich kann mich selbst nicht sehen.
Ein klitzekleiner Schutzraum. Die Geiselnehmer zwingen uns immer wieder, die lichtdichten Säcke über den Kopf zu stülpen. Nicht-Sehen bedeutet auch Nicht-gesehen-Werden. Der Sack wird mein Versteck, mein Schutzraum, in dem ich allein bin, in dem ich Gesichter ziehen kann wie ich will. Ich weiß, dass jede Sekunde Gefahr droht. Wenn einer mich fertigmachen will, kann er es tun, grundlos.
Bleiben Sie positiv! Entwickeln Sie Routinen! Behalten Sie die Kontrolle über Ihre Handlungen! Sammeln Sie Informationen! Freuen Sie sich über kleine Siege!
Die Entführer, die sich als sozialrevolutionäre Gruppe mit irrwitzigem Namen vorstellen, erniedrigen uns. Sie zwingen uns zum Antreten in einer Reihe, sie zwingen uns zum tumben Auswendiglernen ihrer Regeln („Regel Nummer zwei: Zolle deinen Bewachern Respekt!“), sie bezeichnen uns als Gäste, verhöhnen uns als Spione und wollen uns gegeneinander aufbringen. Die Geiselnehmer haben unterschiedliche Charaktere, und mit ein paar von ihnen lässt sich reden. Man weiß von Überlebenden, dass sie es vor ihrem drohenden Tod geschafft haben, an die Menschlichkeit, an Gemeinsamkeiten zu appellieren. Ihnen hat es das Leben gerettet. Bestraft wurde ein anderer.
Die Frauen in der Gruppe tun sich mit der Situation leichter als viele Männer. Sie kämpfen nicht gegen Dominanz. Eine Geiselnehmerin zwingt die Männer zum Tanzen. Die Betroffenen begehren auf. Die Geiselnehmerin verlässt aufgebracht den Raum. Dann setzt es Strafen von Männern für Männer.
In einer Geiselnahme gibt es verschiedene Phasen: die Gefangennahme, die Verlegung, das lange Warten. Gewalterfahrung, Hoffnung, Niedergeschlagenheit wechseln sich ab. Im nicht enden wollenden Zirkus der Erniedrigungen werde ich irgendwann müde. Ich habe nur eine Scheibe Brot abbekommen und ein Glas Wasser getrunken. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Irgendwann falle ich in einen Dämmerzustand, die Hände unbequem auf Kopfhöhe angekettet.
Wieder werde ich geschubst, irgendwohin gebracht. Angeherrscht, wer ich sei.
Die Befreiung. Plötzlich fallen Schüsse. Wieder Geschrei. Ich bin unschlüssig, ob wir um Hilfe rufen sollen. Dann wird die Tür aufgebrochen: „Jagdkommando.“
Das ist also die Befreiung: Wieder werde ich geschubst, irgendwohin gebracht. Angeherrscht, wer ich sei. Kapuze ab, Blick nach links. Eine Lampe blendet, ich sehe nichts. Irgendwer hält die Fotos mit den Namensschildern in der Hand, die man von uns gemacht hat. Identitätsabgleich. Dann werde ich in das Zimmer mit dem jungen Mann mit den braunen Augen bugsiert.
Ein Helikopter landet, noch einmal müssen wir funktionieren. Gebückt laufen wir auf ihn zu, die Wucht der Rotorblätter wirft uns fast um. Hinein, hinein, wir heben ab. Das ist die Belohnung für die letzten Stunden: ein morgendlicher Flug über das Wiener Becken. Zwölf Stunden sind seit Beginn der Geiselnahme vergangen. Von oben blicke ich auf Felder, Badeseen, Einfamilienhäuser. Es ist ein sonniger, windstiller Tag. Das Idyll ist unwirklich. Ich komme aus dem Dunkel.
Meine Knochen tun mir weh. Mein Handgelenk ist gerötet. Mein Nacken schmerzt und wird es noch den ganzen Tag tun. Ich habe zwölf Stunden lang den Kopf runtergehalten, den Blick gesenkt. Langsam gewöhne ich mich daran, meinem Gegenüber wieder in die Augen zu schauen. Es ist ein neues und schönes Gefühl. Die Übung, sie ist noch einmal glimpflich ausgegangen.