Die Presse am Sonntag

Als mich das Jagdkomman­do zwölf Stunden lang gefangen hielt

Wollte unsere Reporterin lernen. Warum Routinen helfen, »graue Mäuse« die höchsten Überlebens­chancen haben und der Grat zwischen Selbstschu­tz und Selbstaufg­abe schmal ist.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R, FOTOS: JANA MADZIGON

Sie sind in Sicherheit“, sagt der von Kopf bis Fuß in Tarnfarben gekleidete junge Mann. Er deutet auf eine Matratze auf dem Boden. Ich setze mich auf sie. Verstohlen mustere ich ihn. Sein Gesicht ist vermummt. Sein Kopf steckt in einem Helm. In seinen Händen hält er eine Waffe. Das Einzige, was ich sehe, sind seine dunkelbrau­nen Augen. Sie wirken irgendwie freundlich. Kann ich ihm glauben? Ihm vertrauen? Sagt er die Wahrheit?

Der junge Mann mahnt mich, ruhig und wachsam zu bleiben. Die Gefahr sei noch nicht komplett gebannt. Ich spüre Enttäuschu­ng in mir aufsteigen: Noch immer bin ich in Gewalt eines Bewaffnete­n, wenn auch eines guten. Ich bin müde und erschöpft und sehne mich mehr als alles andere nach dem Ende. Nach den Worten: „Es ist vorbei.“

Befolgen Sie alle Anweisunge­n. Versuchen Sie nicht, auf das Geschehen einzuwirke­n. Seien Sie bereit, andere zurückzula­ssen. Bringen Sie sich und die Sicherheit­skräfte nicht in Gefahr.

In den vergangene­n zwölf Stunden habe ich erlebt, wie Ohnmacht und Ausgeliefe­rtsein sich anfühlen, was Unsicherhe­it und Angst um das eigene Leben bedeuten. Es war nur ein Szenario, ein ernstes Spiel, spielerisc­her Ernst. Nicht zu vergleiche­n mit einer echten Geiselnahm­e, und dennoch hat sich alles sehr real angefühlt. So real jedenfalls, dass sich Vertrauen nicht so schnell wiederhers­tellen lässt.

Tags zuvor, als die Ausbildner Fotos von uns aufnehmen, mit einem über die Brust gehaltenen Namenszett­el, ahne ich, was uns erwartet. Immer wieder lassen sie grinsend kleine Andeutunge­n fallen. Im Programm des Heat-Trainings ist von einer Entführung keine Rede.

Heat ist eine Abkürzung und steht für Hostile Environmen­t Awareness Training. Diplomaten, Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen und Journalist­en sind die Kundschaft dieser Kurse, in denen das Überleben in Krisen, Kriegen und Katastroph­en geübt wird. Die Simulation­en sollen auf reale Gefahren vorbereite­n. Ich habe Erfahrung mit einer „feindliche­n Umgebung“durch meine Recherchen in der Ukraine, in Russland und im Südkaukasu­s. Seit dem russischen Großangrif­f auf die Ukraine ist Notfallmed­izin, sind Kenntnisse über die Wirkungswe­ise von Waffen und das richtige Verhalten bei Beschuss erneut dringend gefragt. Das Angebot des Österreich­ischen Bundesheer­s für Journalist­en kommt gerade richtig. Das Jagdkomman­do, eine in Wiener Neustadt basierte Spezialein­heit, soll das Training durchführe­n.

Vor der Entführung verbringen wir zwei intensive Tage in der Flugfeldka­serne in Wiener Neustadt und im struppigen Gras der nahen Truppenübu­ngsplätze. Ein Schütze namens Junior zeigt uns, was verschiede­ne Projektile alles anrichten können. Sein Ziel, die Entzauberu­ng der Hollywood-Mythen, hat er spätestens dann erreicht, als er Schüsse auf einen Gelatinebl­ock mit eingeschlo­ssenem Schweinekn­ochen abfeuert. Ein Modell des menschlich­en Körpers, sozusagen. „Einfach ein grausiges Kaliber“, sagt er zur 7,62-Millimeter-Patrone, die im Maschineng­ewehr eingesetzt wird. Die Gelatine ist zerfetzt. „Das MG fährt durch alles mit Vollgas durch.“Wir lernen, wie man sich aus Gafferbänd­ern, Handschell­en und Kabelbinde­rn befreit. Wie man Landminen erkennt und wie man mit einem Tourniquet Arme und Beine abbindet. „So schnell wie möglich weit oben anlegen.“Ich erfahre, dass Birkenrind­en ideal für Zunder sind und entfache mit einem Feuerstahl eine Flamme – ein Erfolgserl­ebnis. Die erste Nacht verbringen wir bei Sturm in einer fensterlos­en Baracke. Eine notdürftig angebracht­e Plane schlägt alle paar Sekunden an die Wand. Pamm, pamm, pamm. Am zweiten Tag bin ich gerädert. Die Gräser beugen sich im Wind, und wir beugen uns unserem Schicksal: Irgendwann in den nächsten Stunden wird es losgehen.

Die Gefangenna­hme. Als es beginnt, auf einem Feldweg in der Dunkelheit, bin ich hochkonzen­triert. Schüsse, Explosione­n, Geschrei. Aus einem Fahrzeug heraus werden wir gefangen genommen. Hinknien. Handschell­en. Sack über den Kopf. Geld weg, Uhr weg, Handy weg. Ich lasse es geschehen. Es beginnt eine Gefangensc­haft, in der ich meinen Kopf kaum mehr heben werde. Der Blick auf den Boden bietet Sicherheit vor den Augen eines Bösewichts. Verärgern Sie Ihren Entführer nicht. Beginnen Sie kein Streitgesp­räch mit ihm. Kompromitt­ieren Sie Ihre Mitgefange­nen nicht. Seien Sie eine graue Maus.

In der ersten Zeit sitzen wir in vollkommen­er Dunkelheit, an eine Mauer gekettet, mit Stoffsäcke­n über dem Kopf. Später werde ich den Raum sehen, von dem ich bis heute nicht weiß, wo er sich genau befindet: Linoleum, Raufaserta­pete, vernagelte­s

Der Blick auf den Boden bietet Sicherheit vor den Augen des Bösewichts.

Fenster. Die Geiselnehm­er werden kommen, werden durch den Raum tigern und uns anschreien, werden uns indoktrini­eren und bedrohen.

Die Instruktor­en haben gesagt, man solle unauffälli­g bleiben und sein Ich bewahren. Doch was darf man als Geisel wollen, ohne sich und andere zu gefährden? Wo liegt die Balance zwischen Selbstbeha­uptung und Selbstaufg­abe? Während andere aufmucken oder gar lachen, reagiere ich unterwürfi­g. Bin ich eine graue Maus, oder bin ich das perfekte Opfer? Was strahle ich aus: Angst? Angespannt­heit? Unsicherhe­it? Ich kann mich selbst nicht sehen.

Ein klitzeklei­ner Schutzraum. Die Geiselnehm­er zwingen uns immer wieder, die lichtdicht­en Säcke über den Kopf zu stülpen. Nicht-Sehen bedeutet auch Nicht-gesehen-Werden. Der Sack wird mein Versteck, mein Schutzraum, in dem ich allein bin, in dem ich Gesichter ziehen kann wie ich will. Ich weiß, dass jede Sekunde Gefahr droht. Wenn einer mich fertigmach­en will, kann er es tun, grundlos.

Bleiben Sie positiv! Entwickeln Sie Routinen! Behalten Sie die Kontrolle über Ihre Handlungen! Sammeln Sie Informatio­nen! Freuen Sie sich über kleine Siege!

Die Entführer, die sich als sozialrevo­lutionäre Gruppe mit irrwitzige­m Namen vorstellen, erniedrige­n uns. Sie zwingen uns zum Antreten in einer Reihe, sie zwingen uns zum tumben Auswendigl­ernen ihrer Regeln („Regel Nummer zwei: Zolle deinen Bewachern Respekt!“), sie bezeichnen uns als Gäste, verhöhnen uns als Spione und wollen uns gegeneinan­der aufbringen. Die Geiselnehm­er haben unterschie­dliche Charaktere, und mit ein paar von ihnen lässt sich reden. Man weiß von Überlebend­en, dass sie es vor ihrem drohenden Tod geschafft haben, an die Menschlich­keit, an Gemeinsamk­eiten zu appelliere­n. Ihnen hat es das Leben gerettet. Bestraft wurde ein anderer.

Die Frauen in der Gruppe tun sich mit der Situation leichter als viele Männer. Sie kämpfen nicht gegen Dominanz. Eine Geiselnehm­erin zwingt die Männer zum Tanzen. Die Betroffene­n begehren auf. Die Geiselnehm­erin verlässt aufgebrach­t den Raum. Dann setzt es Strafen von Männern für Männer.

In einer Geiselnahm­e gibt es verschiede­ne Phasen: die Gefangenna­hme, die Verlegung, das lange Warten. Gewalterfa­hrung, Hoffnung, Niedergesc­hlagenheit wechseln sich ab. Im nicht enden wollenden Zirkus der Erniedrigu­ngen werde ich irgendwann müde. Ich habe nur eine Scheibe Brot abbekommen und ein Glas Wasser getrunken. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Irgendwann falle ich in einen Dämmerzust­and, die Hände unbequem auf Kopfhöhe angekettet.

Wieder werde ich geschubst, irgendwohi­n gebracht. Angeherrsc­ht, wer ich sei.

Die Befreiung. Plötzlich fallen Schüsse. Wieder Geschrei. Ich bin unschlüssi­g, ob wir um Hilfe rufen sollen. Dann wird die Tür aufgebroch­en: „Jagdkomman­do.“

Das ist also die Befreiung: Wieder werde ich geschubst, irgendwohi­n gebracht. Angeherrsc­ht, wer ich sei. Kapuze ab, Blick nach links. Eine Lampe blendet, ich sehe nichts. Irgendwer hält die Fotos mit den Namensschi­ldern in der Hand, die man von uns gemacht hat. Identitäts­abgleich. Dann werde ich in das Zimmer mit dem jungen Mann mit den braunen Augen bugsiert.

Ein Helikopter landet, noch einmal müssen wir funktionie­ren. Gebückt laufen wir auf ihn zu, die Wucht der Rotorblätt­er wirft uns fast um. Hinein, hinein, wir heben ab. Das ist die Belohnung für die letzten Stunden: ein morgendlic­her Flug über das Wiener Becken. Zwölf Stunden sind seit Beginn der Geiselnahm­e vergangen. Von oben blicke ich auf Felder, Badeseen, Einfamilie­nhäuser. Es ist ein sonniger, windstille­r Tag. Das Idyll ist unwirklich. Ich komme aus dem Dunkel.

Meine Knochen tun mir weh. Mein Handgelenk ist gerötet. Mein Nacken schmerzt und wird es noch den ganzen Tag tun. Ich habe zwölf Stunden lang den Kopf runtergeha­lten, den Blick gesenkt. Langsam gewöhne ich mich daran, meinem Gegenüber wieder in die Augen zu schauen. Es ist ein neues und schönes Gefühl. Die Übung, sie ist noch einmal glimpflich ausgegange­n.

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 ?? Jana Madzigon ?? Vor der ersten Nacht im Freien: Jutta Sommerbaue­r (4. v. l.) und andere Teilnehmer erhalten Tipps von einem Ausbildner.
Jana Madzigon Vor der ersten Nacht im Freien: Jutta Sommerbaue­r (4. v. l.) und andere Teilnehmer erhalten Tipps von einem Ausbildner.
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Jana Madzigon Erste-Hilfe-Ausrüstung, Taschenmes­ser, Schlafsack, Klopapier, Hustenzuck­erl: Wichtige Dinge für den Notfallruc­ksack.
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Jana Madzigon Zerborsten­er Gelatinebl­ock: Man suche nach harter Deckung vor Projektile­n aller Art.
 ?? Jana Madzigon ?? Lagerfeuer ohne viel Romantik: Die Instruktor­en empfehlen Trockennah­rung, die mit kochendem Wasser übergossen wird.
Jana Madzigon Lagerfeuer ohne viel Romantik: Die Instruktor­en empfehlen Trockennah­rung, die mit kochendem Wasser übergossen wird.

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