Venedig will exklusiver werden
Die Touristenmassen sind ein immer gravierenderes Problem für Venedig. Die Stadt steuert nun gegen – und verlangt Eintritt in die Lagune. Doch die ersten Tage zeigen: Auch die umstrittene Maßnahme wird die Lage nicht verbessern.
An die Kanalmauer gelehnt schauen Andreas Metzger und seine Frau Marion vom Bahnhof aus auf die Stadt. Sie scheinen die Ruhe zu genießen, bevor sie sich in das Getümmel von Touristen im wie immer vollkommen überfüllten Venedig stürzen. „Ich finde es gut, dass man nun als Tagesausflügler Eintritt in die Stadt bezahlen muss“, sagt Andreas Metzger. „Die kommen her, kaufen sich vielleicht höchstens ein Cola und gehen nach ein paar Stunden wieder – davon hat die Stadt nichts“, begründet der Urlauber aus der deutschen Stadt Hockenheim seine Meinung. Die Metzgers aber mussten nicht bezahlen, sie haben eine Unterkunft in der Umgebung und bleiben mehrere Tage.
Den obligatorischen QR-Code, den sie trotzdem von diesem Donnerstag an an ausgewählten Tagen bei einer Kontrolle vorzeigen müssen, haben die Metzgers aber in der Tasche. Ihr Hotel habe sich für sie darum gekümmert, erzählen sie. Die Eintrittskarte für Venedig wurde ihnen am Morgen an der Rezeption ausgehändigt – sie mussten sich also nicht selbst durch das recht komplizierte Onlineanmeldeformular klicken. In ihren Augen funktioniert das System.
So groß das Verständnis der Besucher auch sein mag, so groß ist der Ärger der Venezianer. Am Donnerstagmorgen, dem ersten Tag mit Eintritt, versammeln sich viele von ihnen zu einer Demonstration, die Polizei spricht von 300 Teilnehmern: Sie protestieren gegen die neue Gebühr, die ja eigentlich ihnen das Leben erleichtern soll.
Aufgeblähte Maschinerie. „Der Eintrittspreis soll dazu dienen, die Touristenströme zu lenken, aber er führt zu überhaupt gar nichts“, sagt Giovanni Martini, der für die bürgerliche Liste Tutta la Città insieme im Stadtparlament sitzt. Und damit in der Opposition. Seit viereinhalb Jahren werde in der Stadt über die Einführung diskutiert.
Jetzt habe die rechte Mehrheit um Bürgermeister Luigi Brugnaro die Gebühr durchgedrückt — „vor allem, um zu verhindern, dass die Unesco Venedig auf die rote Liste des gefährdeten Welterbes setzt“, sagt Martini. Damit könnten die Verantwortlichen sagen, sie hätten Maßnahmen ergriffen, um die Stadt vor dem Übertourismus zu retten. „Aber das Einzige, was sie tun, ist, diese aufgeblähte Maschinerie in Gang zu setzen, die am Ende überhaupt keinen Effekt haben wird.“
Ein paar Ecken weiter, schon mitten im Getümmel, stehen bei strahlendem
Sonnenschein sechs Frauen vor einem Café und stärken sich mit einem Mittagssnack: Ein Stück Pizza auf die Hand muss noch sein, bevor es zurück nach Koblenz geht. „Ich habe totales Verständnis dafür, dass Venedig nun eine Gebühr für Tagestouristen einführt“, sagt Katharina Steinbach. Warum nicht? „Venedig ist ein Museum“, sagt ihre Freundin Inge Horn.
Die Frauen, die in der Lagunenstadt ihre Doppelkopfkasse leeren, mussten aber den „contributo d’accesso“, wie die Kommune den Eintritt in ihre Stadt nennt, wie die Metzgers nicht bezahlen. Sie waren fünf Tage lang in Venedig. Aber auch sie brauchen den QR-Code – theoretisch. „Oh, das wussten wir nicht“, sagt Katharina Steinbach. Die Frauengruppe könnte also keine Reservierungsbestätigung vorzeigen, sollte sie von einem der 60 Kontrolleure danach gefragt werden. Wer keinen Code hat, muss mit einer Strafe zwischen 50 und 300 Euro rechnen.
Die Kontrolleure mit ihren neonfarbenen Westen warten vor dem Bahnhof.
Doch hier vor dem Cafè, nur wenige Gassen vom Markusplatz entfernt, interessiert das an diesem ersten Tag niemanden. Die Kontrolleure, die an ihren neonfarbenen Westen zu erkennen sind, haben sich zum großen Teil vor dem Bahnhof postiert. Als Kette aufgereiht stehen sie am Ende der Treppe und versuchen die Flut an Menschen, die aus der Halle in die Lagunenstadt strömt, in geregelte Bahnen zu lenken: Wie bei der Zollkontrolle am Flughafen weisen Aufsteller darauf hin, wer wo kontrolliert werden soll. So gibt es eine
Schlange für Studenten oder Menschen, die in Venedig arbeiten, eine für in Venedig oder der Region Veneto gemeldete Bürger und eine für Touristen. Recht geduldig reihen sich die Ankommenden ein, die meisten sind vorbereitet und zeigen ihren QR-Code vor.
Noch läuft die Testphase. Die Gebühr diene nicht dazu, Kasse zu machen, betonte Bürgermeister Brugnaro in den vergangenen Wochen in Dauerschleife. „Uns ist es wichtig, dass die Stadt weniger überlastet ist, es soll eher abschrecken, an dem oder dem Tag als Tagestourist zu kommen“, sagt Brugnaro am ersten Tag des Experiments. Erhoben wird der Eintritt in die Lagunenstadt in der Testphase vom 25. bis 30. April, vom 1. bis 5. Mai und an allen darauf folgenden Wochenenden bis zum 14. Juli. Ausgenommen ist das Wochenende des 1./2. Juni. Der 2. Juni ist in Italien Nationalfeiertag. Danach soll entschieden werden, ob die Gebühr auch in den folgenden Jahren fällig werden wird – und ob auch mehr als fünf Euro denkbar wären.
Stadtrat Michele Zuin, der für den Haushalt der Stadt zuständig ist, steht an diesem Morgen vor dem Bahnhof in Venedig und begleitet den Startschuss des Testlaufs. „Im ersten Jahr sind die Kosten für die Einrichtung des Systems sogar höher als das, was wir mit dem Eintritt einnehmen werden“, sagt er. Es ginge vor allem darum zu erfassen, wie viele Menschen überhaupt nach Venedig kommen. Bis jetzt gibt es verlässliche Zahlen nur über die Übernachtungsgäste. Laut Statistik waren das rund 4,6 Millionen im Jahr 2022.
Wo ist die Obergrenze? Am Donnerstagabend ist die Bilanz des ersten Tages mit Eintritt erschreckend. 113.000 Besucher hatten sich über die Internetseite oder bei Ankunft für einen Venedig-Aufenthalt an diesem 25. April – einem Feiertag in Italien – registriert.
Eine Obergrenze, wie viele Menschen pro Tag Venedig besuchen dürfen, hat die Stadt nicht festgelegt. Unter anderem das kritisiert Jan van der Borg, der an der Universität Ca’ Foscari in Venedig die Masterstudiengänge in Tourismuswirtschaft koordiniert. Er forscht seit Ende der 1980er-Jahre zum Thema Übertourismus.
Seinen Untersuchungen zufolge könnte Venedig mit etwa 50.000 Tagestouristen, zusätzlich zu den Übernachtungsgästen, klarkommen. Zum Vergleich: Im historischen Zentrum der Stadt leben aktuell nur
noch weniger als 49.000 Venezianer.
Ein weiterer Kritikpunkt des Experten betrifft die Umsetzung des Ganzen. „Das System ist unglaublich kompliziert und kostet am Ende mehr als es einbringt“, sagt er. Die Ausnahme von der Eintrittsgebühr scheint tatsächlich die Regel zu sein. Wer seinen ständigen Wohnsitz in Venedig hat, muss nichts tun, nicht einmal einen QR-Code generieren. Wer in der Region Veneto lebt, ist von der Gebühr befreit, nicht aber von der Registrierungspflicht.
Die ersten Zahlen zeigen: Von den 113.000 bis Mittwochabend gezählten Registrierungen haben nur 15.700 die Gebühr von fünf Euro bezahlt. Immerhin 78.500 Euro für den ersten Tag. Doch da kommt auch schon die nächste Frage auf: Wohin soll dieses Geld eigentlich fließen? Die Antwort, die einem viele Venezianer geben, und die auch
Experte van der Borg nennt ist: in den Bau des neuen Stadions.
Deshalb ist auch Chiara Buratti an diesem Donnerstag auf der Straße und demonstriert gegen den „contributo d’accesso“. Sie ist Teil der Assemblea Sociale per la Casa Venezia, einer Vereinigung, die sich für mehr Sozialwohnungen in Venedig einsetzt. „Jedes Jahr ziehen weitere tausend Venezianer aus ihrer Stadt weg, vor allem, weil sie es sich nicht mehr leisten können, hier zu wohnen“, sagt die 35-Jährige.
2000 Wohnungen, die der Stadt gehörten, stünden derzeit leer. Sie müssten renoviert und instand gesetzt werden. „Aber dafür, heißt es immer, gebe es kein Geld.“Chiara Buratti lebt mit ihrer Familie – inklusive der Tochter, die vergangenes Jahr geboren wurde –
»1000 Venezianer ziehen pro Jahr weg, weil sie sie sich ihre Stadt nicht leisten können.«
aus Protest gegen diese Entscheidungen der Politik in einer besetzten Wohnung. Gruppen okkupieren die von der Stadt im Stich gelassenen Unterkünfte und sorgen selbst für die Instandhaltung. Auch der Wirtschaftswissenschaftler van der Borg fordert, das durch die Eintrittskarten gewonnene Geld in die Infrastruktur der Stadt zu stecken. Davon würden sowohl die Bewohner als auch die Touristen profitieren.
Geplante Steuersenkung. Aber was soll nun mit dem Geld passieren, wenn die Kosten des neuen Systems tatsächlich einmal gedeckt sind und die Stadt mit dem Eintritt irgendwann Gewinn machen sollte? „Dann senken wir die Steuern für die Venezianer“, kündigt Stadtkämmerer Zuin an.