Countertenöre: Wie hoch kann ein Mann singen?
Countertenöre, also Sänger, die mit ihrer Kopfstimme bis in Sopranhöhen vordringen, mischen die Klassikszene auf. Sie flirten mit Pop und erweitern, was als männlich gilt. Und sie werden mehr: Was reizt uns so an den Erben der Kastraten?
Wie er zum Sopranisten geworden ist? „Nun“, erklärt Maayan Licht vor laufender Fernsehkamera. „Ich bin jüdisch und in Israel geboren. Und als ich, im Alter von acht Tagen, beschnitten wurde, hat man mir aus Versehen auch die Hoden weggeschnitten.“Kurze Pause. „Ist das wahr?“, fragt der Moderator. Maayan schweigt kurz, mit starrer Miene. Und lacht dann: „Nein!“
Der Fernsehauftritt ist eines der Videos, die Maayan Licht auf Instagram bekannt gemacht haben. Auf anderen sieht und hört man, wie er Koloraturen von Händel und Vivaldi singt und sich dabei in lichte Höhen schwingt. Er ist Countertenor – kann also mit seiner Kopfstimme so hoch singen, wie man es sonst nur von Frauenstimmen kennt. In der Welt der klassischen Musik ist der Countertenor ein etabliertes Stimmfach. Außerhalb davon ist ein solcher Gesang für viele noch ein Kuriosum – doch das ändert sich gerade.
Was auch Maayan Licht spürt, der in Amsterdam lebt, aber viel Zeit in Wien verbringt. Karrieretechnisch steht der 30-Jährige noch vor dem großen Durchbruch, in Wien hat er einen Auftritt an der Kammeroper vorzuweisen, nächstes Jahr wird er im Theater an der Wien in der Barockoper „Ambleto“spielen. In den sozialen Medien trifft er mit seinem Gesang einen Nerv: Countertenöre „trenden“. Auf Instagram und TikTok hat er jeweils über 50.000 Fans. Das reicht dafür, dass er in Wien angesprochen wird, so mancher Follower reist extra zu seinen Konzerten. „Was ich mache, erzeugt offenkundig Begeisterung und Neugier. Für viele ist es auch ungewöhnlich und seltsam: Wow, ein Mann singt so? Ich liebe es, den Leuten auf Social Media zu zeigen: Das ist tatsächlich eine männliche Stimme!“
Dabei muss er auch mit Vorurteilen aufräumen. „Es gibt immer dieses Gerede: Haha, hast du deine Eier noch?“Mit seinem Kastrationsgag witzelt Licht offensiv zurück, stapelt ein Tabu auf ein anderes. Einer anderen Vorstellung entgegenzuwirken liegt ihm besonders am Herzen: Dass er ein Mann sei, der „wie eine Frau“singe. „Das ist genau der Irrglaube! Was ich mache, ist einfach, was eine männliche Stimme machen kann.“
Mit nacktem Oberkörper. Und was immer mehr männliche Stimmen auch machen: „Es gibt wahnsinnig viele junge Kollegen, die sprießen wie die Gänseblümchen“, sagt der 28-jährige, aus Oberösterreich stammende Alois Mühlbacher, der nicht nur auf Konzertbühnen, sondern auch mit einer kunstvollen Version von Queens „Don’t Stop Me Now“auf YouTube aufgefallen ist. Die Szene der Countertenöre ist quirlig, der Nachwuchs zahlreich. Dank einiger Akteure werden sie auch im kulturellen Mainstream – abseits der Klassikkennerschaft – immer präsenter. Der gefeierte polnische Countertenor Jakub Józef Orliński (33) demonstriert dabei nicht nur seine bewegliche Stimme, sondern auch seine Breakdance-Moves. In seinen Musikvideos performt er Barockarien mit nacktem, durchtrainiertem Oberkörper. Er hat Werbedeals, er ist hip – er ist das prominenteste Sinnbild für die neue Riege der Countertenöre.
„Diese jungen Leute greifen in ihrer medialen Inszenierung stark in das Populärkulturelle“,
sagt Alexander Flor. Er forscht an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (MDW) zur Rezeptionsästhetik der barocken Oper – also jenes Fachs, in dem sich Countertenöre vorwiegend betätigen. Kein Wunder, meint er – ließe sich die Barocke doch wunderbar als Pop-Phänomen interpretieren: Da wie dort gibt es androgyne Männlichkeit, das Spiel mit Geschlechtern und einen durchgehenden Beat. „Die Countertenöre schaffen einen Spagat: Sie lehnen sich nicht zu weit aus dem Fenster, sodass sie auch beim bildungsbürgerlichen Publikum gut ankommen, aber sie haben auch Identifikationspotenzial für ein queeres Publikum. Sie sind archetypische Männer – aber eben mit einem subversiven Element: der hohen Stimme.“
Countertenöre (wörtlich: Gegentenöre) gab es schon, bevor im 17. Jahrhundert Kastraten zu den großen Stars der Barockoper wurden – vor allem in Italien, aber auch hierzulande. Weil Frauen das Singen in der Kirche verboten war und zugleich auch heldenhafte, maskuline Figuren (wie Julius Caesar in Händels „Giulio Cesare“) mit engelsgleichen Stimmen assoziiert wurden, mussten Männer her, die die Alt- und Sopranregister schafften. Die barbarische Praxis, bei der Buben vor der Pubertät die Samenstränge durchtrennt wurden, um ihre hohen Stimmen zu erhalten, hielt sich bis in das 20. Jahrhundert. Von Alessandro Moreschi, der als einer der letzten Kastraten 1922 starb, gibt es gar Tonaufnahmen.
Der Eingriff sorgte für einen quasi übernatürlichen Körperbau: Die Kastraten wurden – weil das Wachstum ohne die nötigen Hormone außer Kontrolle geriet – besonders groß, auch Brustkorb und Lungenvolumen waren groß, ihr Kehlkopf hingegen klein. Das Ergebnis waren laute, helle, virtuose Stimmen. „Diese Künstlichkeit sah man damals nicht als falsch an“, sagt Forscher Flor. Das habe auch mit einem aristokratischen Ideal zu tun, das bis in das Spätbarock vorherrschte: „Ein Mann musste seinen Geist und Körper veredeln – und ein Kastrat hatte einen veredelten Körper und eine veredelte Stimme. Er war die perfekte Identifikationsfigur für aristokratische Männer.“
Die Rollen, die im Barock von Kastraten gesungen wurden, singen jetzt Countertenöre.
Hartes Training. Aus den männlich codierten Opernfiguren des Barock wurden später Hosenrollen – die also von Frauen in Männerverkleidung gesungen wurden. Heute kommen dafür Countertenöre zum Einsatz. Die hohen Töne erreichen die – wohlgemerkt körperlich unversehrten – Männer durch hartes Training ihrer Falsettstimme. Dabei schwingen die Stimmbänder nur an ihren Rändern (eine Technik, die im Übrigen auch Popstars von Michael Jackson bis Justin Timberlake immer wieder effektvoll eingesetzt haben).
Lang spielten Countertenöre eine Randrolle in der Musik, sie hielten sich etwa in der englischen Chortradition. Ihr Aufschwung fiel mit einer Wiederentdeckung des Barockrepertoires zusammen. Vor allem ab den 1980erJahren kam es zu einer regelrechten Händel-Renaissance. Der britische Pionier Alfred Deller hatte ab den 1940erJahren das Feld bereitet. Der heute 70jährige Jochen Kowalski war der erste Countertenor, den das konservative deutsche Publikum vollkommen akzeptierte. Währenddessen machte Klaus Nomi Weltkarriere mit seiner Fusion aus Oper und Pop. Zu den etablierten Größen der Gegenwart zählen der Österreicher Max Emanuel Cenčić und der Franzose Philippe Jaroussky. Ein Vorbild für viele Jüngere ist zudem der Deutsche Andreas Scholl, der am Mozarteum in Salzburg unterrichtet. Mit Bejun Mehta bekam erst im Herbst 2023 auch die MDW-Universität einen Countertenor als Professor.
Maskuline Rolle, hohe Stimme: Alternative Männlichkeitsbilder gab es schon früher.
Mit der Anzahl der Countertenöre steigt auch das Rollenangebot. Zeitgenössische Komponistinnen wie Olga Neuwirth, Thomas Adès und der kürzlich verstorbene Péter Eötvös schufen Countertenor-Rollen, John Adams in seinem „Gospel According to the Other Mary“gleich drei von sechs: Das Stück wird im Juni bei den Wiener Festwochen erstmals in Österreich aufgeführt.
Und: Es geht immer höher hinauf. So mancher erreicht nicht nur das Alt-, sondern auch das Sopranregister. „Wir haben einen starken gesellschaftlichen Konsens: Der Mann singt tief, die Frau singt hoch. Doch wenn man sich die Musikgeschichte ansieht, gab es zu jeder Zeit eine erstaunliche Vielfalt“, erklärt Alexander Flor. Daher würden sich Countertenöre im aktuellen Diskurs als gutes Symbol dafür anbieten, dass es früher schon alternative Männlichkeitsbilder gegeben hat. Und doch hätten diese „Erben der Kastraten“lang versucht, sich nicht allzu weit vom vorherrschenden Maskulinitätsideal zu entfernen: Flor hat 200 CD-Projekte, die zwischen 2000 und 2020 erschienen sind, analysiert. Die meisten Countertenöre wählten deutliche Männerrollen (während Kastraten auf der Bühne auch weibliche Figuren verkörperten). „Das beginnt sich jetzt erst aufzuweichen.“
Maayan Licht hat mit weiblichen Rollen kein Problem. Er sang die Carmen, seine Traumrolle ist
nicht Caesar in der Händel-Oper, sondern Kleopatra. Dabei wollte er ursprünglich Popstar werden: Mit nicht ganz 18 Jahren nahm er erstmals Gesangsstunden. Die Lehrerin testete seinen Stimmumfang und war erstaunt: „Oh mein Gott, geh höher! Noch höher!“Schließlich sagte sie: „Maayan, lass den Pop-Blödsinn bleiben, du musst Sopran
nd werden, dich auf Barock spezialisieren.“
Sie hatte einen vollständigen Plan für ihn. Er folgte ihm. Im Falsett kommt er bis zum zweigestrichenen B oder H, damit kann er Sopranrollen im Barock und Mezzosopran-Rollen im Repertoire der Romantik singen (zum Vergleich: die Königin der Nacht aus der „Zauberflöte“, eine der anspruchsvollsten Sopran-Partien, geht bis zum dreigestrichenen F). Klanglich strebt er nach dem perfekten Triller, nach einem hellen, engelshaften Ton – den typischen Countertenor-Klang findet er zu dunkel und nasal. Was nicht heißen soll, dass er feminin klingen wolle: „Ich versuche nicht, meinen Klang zu verstellen.“
»Jeder kann das trainieren. Jeder Mann kann quietschen – wir quietschen halt gekonnt.«
Das sagt auch Alois Mühlbacher. Der Sänger, der neben Barock auch gern Lieder von Mahler, Strauss und Schubert interpretiert (und zudem der neue Intendant des Barockfestivals St. Pölten ist), singt in Übungen bis zum C, im Konzert bis zum A – strebt aber nicht nach höchsten Höhen. „Ich fühle mich wohl in der Altlage und der mittleren Lage, die Höhe verwende ich für Effekte und Verzierungen.“Zudem setzt er auch seine tiefe Bruststimme ein: „Da sind wir dem Mezzosopran ein wenig überlegen: Wenn wir das richtig mischen, hat das eine besondere Kraft.“
Mühlbacher singt, seit er ein Kind ist, bei den St. Florianer Sängerknaben war er Knabensolist. „Meine hohe Stimme war super trainiert – und ich war voller Angst vor dem Stimmbruch: Würde ich mich dann nicht mehr ausdrücken können? Ist das, wie wenn einem das Instrument weggenommen wird?“Letztendlich war die Sorge unbegründet: „Ich habe meinen Stimmbruch gar nicht mitbekommen, ich habe einfach hoch weitergesungen – und irgendwann habe ich bemerkt, dass meine tiefe Bass-Bariton-Stimme schon darunter gewachsen ist.“
Überirdisch? Um so hoch zu singen, brauche es „eine unglaubliche Spannung. Dadurch ist auch eine besondere Spannung im Raum“, erklärt er den Reiz seines Stimmfachs. „Gerade in der sakralen Musik gibt es Stücke, die durch diese Klangfarbe etwas Überirdisches, Magisches bekommen. Fast wie ein Engelswesen.“Wichtig ist Mühlbacher zu betonen: „Das ist kein Wunder und auch kein genetisches Phänomen. Es ist einfach eine technische Sache. Jeder Mann könnte diese Stimmlage trainieren.“Er lacht: „Jeder kann quietschen – und wir quietschen halt gekonnt.“