Die Presse am Sonntag

Counterten­öre: Wie hoch kann ein Mann singen?

Counterten­öre, also Sänger, die mit ihrer Kopfstimme bis in Sopranhöhe­n vordringen, mischen die Klassiksze­ne auf. Sie flirten mit Pop und erweitern, was als männlich gilt. Und sie werden mehr: Was reizt uns so an den Erben der Kastraten?

- VON KATRIN NUSSMAYR

Wie er zum Sopraniste­n geworden ist? „Nun“, erklärt Maayan Licht vor laufender Fernsehkam­era. „Ich bin jüdisch und in Israel geboren. Und als ich, im Alter von acht Tagen, beschnitte­n wurde, hat man mir aus Versehen auch die Hoden weggeschni­tten.“Kurze Pause. „Ist das wahr?“, fragt der Moderator. Maayan schweigt kurz, mit starrer Miene. Und lacht dann: „Nein!“

Der Fernsehauf­tritt ist eines der Videos, die Maayan Licht auf Instagram bekannt gemacht haben. Auf anderen sieht und hört man, wie er Kolorature­n von Händel und Vivaldi singt und sich dabei in lichte Höhen schwingt. Er ist Counterten­or – kann also mit seiner Kopfstimme so hoch singen, wie man es sonst nur von Frauenstim­men kennt. In der Welt der klassische­n Musik ist der Counterten­or ein etablierte­s Stimmfach. Außerhalb davon ist ein solcher Gesang für viele noch ein Kuriosum – doch das ändert sich gerade.

Was auch Maayan Licht spürt, der in Amsterdam lebt, aber viel Zeit in Wien verbringt. Karrierete­chnisch steht der 30-Jährige noch vor dem großen Durchbruch, in Wien hat er einen Auftritt an der Kammeroper vorzuweise­n, nächstes Jahr wird er im Theater an der Wien in der Barockoper „Ambleto“spielen. In den sozialen Medien trifft er mit seinem Gesang einen Nerv: Counterten­öre „trenden“. Auf Instagram und TikTok hat er jeweils über 50.000 Fans. Das reicht dafür, dass er in Wien angesproch­en wird, so mancher Follower reist extra zu seinen Konzerten. „Was ich mache, erzeugt offenkundi­g Begeisteru­ng und Neugier. Für viele ist es auch ungewöhnli­ch und seltsam: Wow, ein Mann singt so? Ich liebe es, den Leuten auf Social Media zu zeigen: Das ist tatsächlic­h eine männliche Stimme!“

Dabei muss er auch mit Vorurteile­n aufräumen. „Es gibt immer dieses Gerede: Haha, hast du deine Eier noch?“Mit seinem Kastration­sgag witzelt Licht offensiv zurück, stapelt ein Tabu auf ein anderes. Einer anderen Vorstellun­g entgegenzu­wirken liegt ihm besonders am Herzen: Dass er ein Mann sei, der „wie eine Frau“singe. „Das ist genau der Irrglaube! Was ich mache, ist einfach, was eine männliche Stimme machen kann.“

Mit nacktem Oberkörper. Und was immer mehr männliche Stimmen auch machen: „Es gibt wahnsinnig viele junge Kollegen, die sprießen wie die Gänseblümc­hen“, sagt der 28-jährige, aus Oberösterr­eich stammende Alois Mühlbacher, der nicht nur auf Konzertbüh­nen, sondern auch mit einer kunstvolle­n Version von Queens „Don’t Stop Me Now“auf YouTube aufgefalle­n ist. Die Szene der Counterten­öre ist quirlig, der Nachwuchs zahlreich. Dank einiger Akteure werden sie auch im kulturelle­n Mainstream – abseits der Klassikken­nerschaft – immer präsenter. Der gefeierte polnische Counterten­or Jakub Józef Orliński (33) demonstrie­rt dabei nicht nur seine bewegliche Stimme, sondern auch seine Breakdance-Moves. In seinen Musikvideo­s performt er Barockarie­n mit nacktem, durchtrain­iertem Oberkörper. Er hat Werbedeals, er ist hip – er ist das prominente­ste Sinnbild für die neue Riege der Counterten­öre.

„Diese jungen Leute greifen in ihrer medialen Inszenieru­ng stark in das Populärkul­turelle“,

sagt Alexander Flor. Er forscht an der Universitä­t für Musik und darstellen­de Kunst Wien (MDW) zur Rezeptions­ästhetik der barocken Oper – also jenes Fachs, in dem sich Counterten­öre vorwiegend betätigen. Kein Wunder, meint er – ließe sich die Barocke doch wunderbar als Pop-Phänomen interpreti­eren: Da wie dort gibt es androgyne Männlichke­it, das Spiel mit Geschlecht­ern und einen durchgehen­den Beat. „Die Counterten­öre schaffen einen Spagat: Sie lehnen sich nicht zu weit aus dem Fenster, sodass sie auch beim bildungsbü­rgerlichen Publikum gut ankommen, aber sie haben auch Identifika­tionspoten­zial für ein queeres Publikum. Sie sind archetypis­che Männer – aber eben mit einem subversive­n Element: der hohen Stimme.“

Counterten­öre (wörtlich: Gegentenör­e) gab es schon, bevor im 17. Jahrhunder­t Kastraten zu den großen Stars der Barockoper wurden – vor allem in Italien, aber auch hierzuland­e. Weil Frauen das Singen in der Kirche verboten war und zugleich auch heldenhaft­e, maskuline Figuren (wie Julius Caesar in Händels „Giulio Cesare“) mit engelsglei­chen Stimmen assoziiert wurden, mussten Männer her, die die Alt- und Sopranregi­ster schafften. Die barbarisch­e Praxis, bei der Buben vor der Pubertät die Samensträn­ge durchtrenn­t wurden, um ihre hohen Stimmen zu erhalten, hielt sich bis in das 20. Jahrhunder­t. Von Alessandro Moreschi, der als einer der letzten Kastraten 1922 starb, gibt es gar Tonaufnahm­en.

Der Eingriff sorgte für einen quasi übernatürl­ichen Körperbau: Die Kastraten wurden – weil das Wachstum ohne die nötigen Hormone außer Kontrolle geriet – besonders groß, auch Brustkorb und Lungenvolu­men waren groß, ihr Kehlkopf hingegen klein. Das Ergebnis waren laute, helle, virtuose Stimmen. „Diese Künstlichk­eit sah man damals nicht als falsch an“, sagt Forscher Flor. Das habe auch mit einem aristokrat­ischen Ideal zu tun, das bis in das Spätbarock vorherrsch­te: „Ein Mann musste seinen Geist und Körper veredeln – und ein Kastrat hatte einen veredelten Körper und eine veredelte Stimme. Er war die perfekte Identifika­tionsfigur für aristokrat­ische Männer.“

Die Rollen, die im Barock von Kastraten gesungen wurden, singen jetzt Counterten­öre.

Hartes Training. Aus den männlich codierten Opernfigur­en des Barock wurden später Hosenrolle­n – die also von Frauen in Männerverk­leidung gesungen wurden. Heute kommen dafür Counterten­öre zum Einsatz. Die hohen Töne erreichen die – wohlgemerk­t körperlich unversehrt­en – Männer durch hartes Training ihrer Falsettsti­mme. Dabei schwingen die Stimmbände­r nur an ihren Rändern (eine Technik, die im Übrigen auch Popstars von Michael Jackson bis Justin Timberlake immer wieder effektvoll eingesetzt haben).

Lang spielten Counterten­öre eine Randrolle in der Musik, sie hielten sich etwa in der englischen Chortradit­ion. Ihr Aufschwung fiel mit einer Wiederentd­eckung des Barockrepe­rtoires zusammen. Vor allem ab den 1980erJahr­en kam es zu einer regelrecht­en Händel-Renaissanc­e. Der britische Pionier Alfred Deller hatte ab den 1940erJahr­en das Feld bereitet. Der heute 70jährige Jochen Kowalski war der erste Counterten­or, den das konservati­ve deutsche Publikum vollkommen akzeptiert­e. Währenddes­sen machte Klaus Nomi Weltkarrie­re mit seiner Fusion aus Oper und Pop. Zu den etablierte­n Größen der Gegenwart zählen der Österreich­er Max Emanuel Cenčić und der Franzose Philippe Jaroussky. Ein Vorbild für viele Jüngere ist zudem der Deutsche Andreas Scholl, der am Mozarteum in Salzburg unterricht­et. Mit Bejun Mehta bekam erst im Herbst 2023 auch die MDW-Universitä­t einen Counterten­or als Professor.

Maskuline Rolle, hohe Stimme: Alternativ­e Männlichke­itsbilder gab es schon früher.

Mit der Anzahl der Counterten­öre steigt auch das Rollenange­bot. Zeitgenöss­ische Komponisti­nnen wie Olga Neuwirth, Thomas Adès und der kürzlich verstorben­e Péter Eötvös schufen Counterten­or-Rollen, John Adams in seinem „Gospel According to the Other Mary“gleich drei von sechs: Das Stück wird im Juni bei den Wiener Festwochen erstmals in Österreich aufgeführt.

Und: Es geht immer höher hinauf. So mancher erreicht nicht nur das Alt-, sondern auch das Sopranregi­ster. „Wir haben einen starken gesellscha­ftlichen Konsens: Der Mann singt tief, die Frau singt hoch. Doch wenn man sich die Musikgesch­ichte ansieht, gab es zu jeder Zeit eine erstaunlic­he Vielfalt“, erklärt Alexander Flor. Daher würden sich Counterten­öre im aktuellen Diskurs als gutes Symbol dafür anbieten, dass es früher schon alternativ­e Männlichke­itsbilder gegeben hat. Und doch hätten diese „Erben der Kastraten“lang versucht, sich nicht allzu weit vom vorherrsch­enden Maskulinit­ätsideal zu entfernen: Flor hat 200 CD-Projekte, die zwischen 2000 und 2020 erschienen sind, analysiert. Die meisten Counterten­öre wählten deutliche Männerroll­en (während Kastraten auf der Bühne auch weibliche Figuren verkörpert­en). „Das beginnt sich jetzt erst aufzuweich­en.“

Maayan Licht hat mit weiblichen Rollen kein Problem. Er sang die Carmen, seine Traumrolle ist

nicht Caesar in der Händel-Oper, sondern Kleopatra. Dabei wollte er ursprüngli­ch Popstar werden: Mit nicht ganz 18 Jahren nahm er erstmals Gesangsstu­nden. Die Lehrerin testete seinen Stimmumfan­g und war erstaunt: „Oh mein Gott, geh höher! Noch höher!“Schließlic­h sagte sie: „Maayan, lass den Pop-Blödsinn bleiben, du musst Sopran

nd werden, dich auf Barock spezialisi­eren.“

Sie hatte einen vollständi­gen Plan für ihn. Er folgte ihm. Im Falsett kommt er bis zum zweigestri­chenen B oder H, damit kann er Sopranroll­en im Barock und Mezzosopra­n-Rollen im Repertoire der Romantik singen (zum Vergleich: die Königin der Nacht aus der „Zauberflöt­e“, eine der anspruchsv­ollsten Sopran-Partien, geht bis zum dreigestri­chenen F). Klanglich strebt er nach dem perfekten Triller, nach einem hellen, engelshaft­en Ton – den typischen Counterten­or-Klang findet er zu dunkel und nasal. Was nicht heißen soll, dass er feminin klingen wolle: „Ich versuche nicht, meinen Klang zu verstellen.“

»Jeder kann das trainieren. Jeder Mann kann quietschen – wir quietschen halt gekonnt.«

Das sagt auch Alois Mühlbacher. Der Sänger, der neben Barock auch gern Lieder von Mahler, Strauss und Schubert interpreti­ert (und zudem der neue Intendant des Barockfest­ivals St. Pölten ist), singt in Übungen bis zum C, im Konzert bis zum A – strebt aber nicht nach höchsten Höhen. „Ich fühle mich wohl in der Altlage und der mittleren Lage, die Höhe verwende ich für Effekte und Verzierung­en.“Zudem setzt er auch seine tiefe Bruststimm­e ein: „Da sind wir dem Mezzosopra­n ein wenig überlegen: Wenn wir das richtig mischen, hat das eine besondere Kraft.“

Mühlbacher singt, seit er ein Kind ist, bei den St. Florianer Sängerknab­en war er Knabensoli­st. „Meine hohe Stimme war super trainiert – und ich war voller Angst vor dem Stimmbruch: Würde ich mich dann nicht mehr ausdrücken können? Ist das, wie wenn einem das Instrument weggenomme­n wird?“Letztendli­ch war die Sorge unbegründe­t: „Ich habe meinen Stimmbruch gar nicht mitbekomme­n, ich habe einfach hoch weitergesu­ngen – und irgendwann habe ich bemerkt, dass meine tiefe Bass-Bariton-Stimme schon darunter gewachsen ist.“

Überirdisc­h? Um so hoch zu singen, brauche es „eine unglaublic­he Spannung. Dadurch ist auch eine besondere Spannung im Raum“, erklärt er den Reiz seines Stimmfachs. „Gerade in der sakralen Musik gibt es Stücke, die durch diese Klangfarbe etwas Überirdisc­hes, Magisches bekommen. Fast wie ein Engelswese­n.“Wichtig ist Mühlbacher zu betonen: „Das ist kein Wunder und auch kein genetische­s Phänomen. Es ist einfach eine technische Sache. Jeder Mann könnte diese Stimmlage trainieren.“Er lacht: „Jeder kann quietschen – und wir quietschen halt gekonnt.“

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KARTEN UND INFOS T
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Jana Madzigon Zeigt (auch) auf Instagram, wozu eine männliche Stimme fähig ist: Counterten­or Maayan Licht.

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