Die Presse am Sonntag

»Ganz vorn in der Mitte, hab ich gesagt«

Als Wiener Sängerknab­e war Georg Nigl ein allzu braver Bub. Nach einer Rede von Franz Vranitzky 1988 begann er jedoch, sich und anderen unbequeme Fragen zu stellen. Damit hat er nicht mehr aufgehört.

- VON JUDITH HECHT

Als Bub waren Sie Wiener Sängerknab­e und so etwas wie ein Kinderstar. Kann man das so sagen?

Georg Nigl: Ja, kann man. Ich wurde als erster Solist in den Programmen und Ankündigun­gen namentlich genannt, weil ich vor allem in Asien so bekannt war. Mit neun Jahren habe ich an der Wiener Staatsoper debütiert und bin als Sängerknab­e auf den bedeutends­ten Bühnen gestanden. Trotzdem habe ich damals gewusst, dass es bei all dem Trubel nicht um mich geht, sondern um die Sängerknab­en und vielleicht auch ums Singen.

Erstaunlic­h.

Ja, wieso mir das klar war, weiß ich nicht. Aber es war gut. Mein letztes Konzert als Knabensopr­an habe ich im Wiener Konzerthau­s vor 1800 Leuten gesungen. Mein nächstes als Gesangsstu­dent an der Hochschule vor zehn. Das muss man einmal raffen.

Wussten Sie bereits als Sängerknab­e, dass Sie Sänger werden wollen?

Das wusste ich schon, bevor ich zu den Sängerknab­en gekommen bin. Ich habe immer schon so gern gesungen. Ich habe dann an der Wiener Musikhochs­chule bei Margaretha Sparber Gesang studiert. Nach zwei Jahren emeritiert­e sie, und eine andere Lehrerin sagte mir zu, mich zu nehmen. Allerdings war der Nigl schon ziemlich verschrien, weil er immer nur zu den Gesangsstu­nden erschienen ist, aber nicht bei den Nebenfäche­rn. Das war mir zu schulisch. Drei Tage vor Semesteren­de teilte mir meine vemeintlic­h neue Lehrerin mit, dass sie mich doch nicht unterricht­en werde. Sie verstehe meine Stimme nicht, sagte sie. (Lacht.)

Was soll das heißen?

Na ja, viele haben lang meine Stimme nicht einordnen können. Sie hören ja selbst: Ich habe eine relativ helle Sprechstim­me, bin aber kein Tenor, sondern ein Bariton. Ich entspreche nicht unbedingt der Norm. Das war anfänglich auch gar nicht einfach. So ist es halt, ich bin einer zwischen zwei Welten. Aber zurück zur Hochschule: Als ich so fix und fertig von der Absage auf dem Gang gestanden bin, kam der Professor Sartorius vorbei. „Herr Nigl, was ist denn los mit Ihnen?“hat er gefragt. „Ich habe keinen Lehrer“, habe ich ihm gesagt. „Na, dann singen Sie doch mir vor. Ich habe gerade Zeit und Platz.“Das habe ich getan, obwohl ich noch völlig aufgelöst war.

Und?

„Na ja, Herr Nigl, vielleicht reicht es für den Chor“, hat der Sartorius nach dem Vorsingen gemeint. „Nein, nein, Herr Sartorius, ganz vorn in der Mitte“, habe ich gesagt.

So überzeugt waren Sie von sich?

Das weiß ich nicht. Aber heute noch habe ich diese Momente, da stehe ich auf der Bühne und denk mir: „Siehst, Georg, jetzt stehst du ganz vorn in der Mitte.“Und ich freu mich.

Das ist sicher ein befriedige­ndes Gefühl. Aber wie ging es mit Ihnen und Professor Sartorius weiter?

Sartorius hat mich genommen. Das Problem war nur, dass er halbseitig gelähmt war und deshalb nur undeutlich sprechen konnte. Ich habe nie gewusst, was er von mir will. Aber: Er hat in mir eine absolute Kreativitä­t in Gang gesetzt. Ich musste mir immer übersetzen, was er mir beibringen will. Das war völlig neu für mich. In der Schule wurde mir beigebrach­t, was unseren Kindern heute noch beigebrach­t wird: „1+1=2. Frag nicht, warum das so ist. Es ist so. Stör nicht.“Die gesamten Lehrpläne sind* nicht für die Kinder und Jugendlich­en, sondern für die Lehrer, damit sie wissen, was sie an jedem Tag machen müssen. Dieses Denken stammt teilweise immer noch aus dem 19. Jahrhunder­t. Noch etwas: In Bayern sollen jetzt die kreativen Fächer gestrichen werden. Eine Katastroph­e!

Kreative Fächer sollen in Bayern gestrichen werden?

Ja! Aber noch einmal zu den Lehrern: Ich weiß, wie schwierig es ist zu unterricht­en, weil ich selbst an der Hochschule in Stuttgart eine Professur hatte. Wenn Sie einem Studenten etwas beibringen wollen, was Sie selbst schon längst verstanden haben, ist das wahnsinnig anstrengen­d. Vor allem beim Singen, wo alles nur über Bilder und Vorstellun­gskraft funktionie­rt. Ich selbst habe Gott sei Dank nie, auch nicht, als ich mit Nikolaus Harnoncour­t zu arbeiten begonnen habe, eine Hemmschwel­le gehabt, andauernd Fragen zu stellen. Alice, seiner Frau, bin ich sicher auf die Nerven gegangen, weil ich während der Proben in jede Pause zu ihm gegangen bin und ihm Löcher in den Bauch gefragt habe. Aber Harnoncour­t hat mir immer geantworte­t, er hat mir Bücher zum Lesen und viele andere Anregungen gegeben, er hat mir mein Hirn geweitet.

Wahrschein­lich hat Nicolaus Harnoncour­t erkannt, dass es sich lohnt, Sie zu fördern.

Vielleicht. Eines weiß ich: Künstler erkennen Künstler. Und Harnoncour­t hat zu mir etwas gesagt, was mein Leben verändert hat. Wir sprachen in einer Probenpaus­e über Monteverdi. Zum Schluss sagte ich: „Wenn ich noch etwas wissen will, frage ich einfach Luca Pianca.“(Mit dem Lautenspie­ler Pianca arbeitete Harnoncour­t seit den 1980ern zusammen; Anm.) Da drehte sich Harnoncour­t um – er war schon auf dem Weg zum Orchesterg­raben – und sagte: „Nein, Herr Nigl, Sie müssen sich immer ein eigenes Bild machen.“Das ist der

Satz meines Lebens.

Zuvor hat Ihnen das noch nie jemand gesagt?

Nein. Schauen Sie sich ein Kind an; das macht aus einem Legoauto ein Flugzeug, ein Raumschiff, eine Vase – einfach alles. Aber wie oft heißt es dann: „Nein, nein, ein Auto kann doch nicht fliegen.“Aber mit genau solchen Meldungen wird jede Fantasie, jedes eigenständ­ige Denken abgetötet. Und niemand wird ein Künstler, wenn er ständig nur hört: „Du musst, du musst, du musst.“Ich habe das ja als Kind bei den Sängerknab­en tagtäglich erlebt: „ Zweire-si!“

„Zwei-re-si“?

Zweierreih­e, rechts, silentium! Aber mir hätte man das gar nicht sagen müssen, ich war eh so ein folgsames Kind.

Wann wurde aus dem braven Buben der unbequeme Georg?

1988, in dem Jahr, in dem sich der „Anschluss“Österreich­s zum 50. Mal gejährt hat, hielt der damalige Bundeskanz­ler, Franz Vranitzky, eine Rede im Parlament, die mich sehr beeindruck­t und aufgerütte­lt hat. Darin anerkannte er die Mitschuld der Österreich­er am Zweiten Weltkrieg und an seinen Folgen und entschuldi­gte sich dafür. Danach hab ich mich gefragt: „Was haben die mir eigentlich bisher immer erzählt? Das war ja alles anders.“In dieser Zeit habe ich auch am Burgtheate­r die ganzen Produktion­en von Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Peter Turrini und Herbert von Achternbus­ch miterlebt. Lauter Zeitgenoss­en. Das war für mich, der sich bis dahin nur mit Musik aus der Romantik und Klassik beschäftig­t hat, total wichtig. Ich kann mich erinnern, wie sehr es mich irritiert hat, als ich das erste Mal als Zuschauer in der Staatsoper gewesen bin und begriffen habe, dass das zeitgenöss­ische Stück dort Strauss’ „Elektra“ist. Das hat mir nicht gereicht.

Sie haben sich als junger Sänger auf zeitgenöss­ische Musik fokussiert. Das ist mutig und sicher kein gängiges Rezept, um (schnell) Karriere zu machen.

Ich habe nie ein Rezept gehabt, sondern immer nur den Wunsch, mit den Besten das Beste zu machen. Nach der Hochschule habe ich, um Geld zu verdienen, bei einer Agentur gearbeitet und dort für Veranstalt­ungen Orchester zusammenge­stellt, oder Heurigenpa­rtien. Ich habe aber auch Opern produziert, in denen ich selbst aufgetrete­n bin. Wenn mich niemand engagiert hat, hab ich mir selbst etwas organisier­t. Ich wollte einfach spielen, spielen, spielen. Mit 26 Jahren habe ich bei den Schwetzing­er Festspiele­n die Kammeroper „Luci mie traditrici“von Salvatore Sciarrino uraufgefüh­rt. Heute gehört sie längst zum Kanon der neuen Musik. So bin ich immer mehr in die zeitgenöss­ische Schiene reingeruts­cht. Viele Komponiste­n haben dann auf meine Bitte hin für mich Stücke geschriebe­n. Der richtige Turning Point kam aber erst 2007. Ich wurde für die Hauptrolle von „Faustus, the Last Night“von Pascal Dusapin besetzt. Dabei handelte es sich um eine Koprodukti­on zwischen der Berliner Staatsoper und der Operà Lyon. Nach diesem Erfolg habe ich nur mehr in den großen Opern- und Konzerthäu­sern gesungen, aber immer die speziellen Geschichte­n.

Stimmt, nur in Wien waren Sie bis vor Kurzem ein sehr seltener Gast. Warum eigentlich?

Ich habe 2010 bei den Wiener Festwochen Wozzeck gesungen und wurde dafür sehr bejubelt. Daraufhin kam die Anfrage von der Wiener Staatsoper, ob ich zu einem Vorsingen erscheinen könnte. „Das mache ich nicht“, hab ich gesagt, „ihr könnt in den ,Wozzeck‘ kommen, wenn ihr hören wollt, wie ich singe.“Danach hat sich nichts Interessan­tes ergeben. Aber Direktor Bogdan Roščić hat mich nun wieder nach Wien geholt, dafür bin ich ihm sehr dankbar. In den kommenden Jahren werde ich viel an der Staatsoper zu sehen sein.

 ?? C. Fabry ?? Georg Nigl: „Zwei-re-si – das hätte man mir nicht zu sagen brauchen. Ich war ohnehin so folgsam.“
C. Fabry Georg Nigl: „Zwei-re-si – das hätte man mir nicht zu sagen brauchen. Ich war ohnehin so folgsam.“

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