»Helden langweilen mich«
Regisseur Kevin Macdonald widmet sich in »High & Low« dem umstrittenen Designer John Galliano. Im Interview erzählt er, wie er sich dessen Leben voll Höhen und Tiefen genähert hat.
Geschichten über die Modewelt erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Nach Serien über Balenciaga oder Dior & Chanel kommt demnächst Daniel Brühl als Karl Lagerfeld auf die Bildschirme, auch Dokus locken Zuschauer in Scharen. Nach den Supermodels der 1990er-Jahre oder Designikonen wie Alexander McQueen, Vivienne Westwood oder Jean-Paul Gaultier ist in „High & Low – John Galliano“nun einer der erfolgreichsten und aufsehenerregendsten Modedesigner der vergangenen 30 Jahre dran. Im Film von Kevin Macdonald kommen nicht nur Anna Wintour, Charlize Theron, Naomi Campbell oder Gallianos Lebensgefährte Alex Roche zu Wort, sondern auch der Designer selbst, der 2011 nach antisemitischen Ausfällen nicht nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, sondern auch seinen Job bei Dior verlor.
Mr. Macdonald, wie erklären Sie sich das riesige Interesse an der Modebranche, das zu einer Flut von Filmen und Serien geführt hat?
Kevin Macdonald: Von außen betrachtet ist diese Welt einfach sehr exotisch und sonderbar, die Designerinnen und Designer erscheinen als Figuren überlebensgroß, genau wie die Dramen und Konflikte, die sich da abspielen. Für filmische Geschichten, egal ob fiktionalisiert oder dokumentarisch, ist das ein Geschenk. Johns Geschichte hat mich besonders gereizt, schon allein, weil er viel durchgemacht hat. Nicht zuletzt natürlich die Ereignisse damals in der Pariser Bar La Perle und alles, was nach der Veröffentlichung des Videos von jenem Abend kam. Das ist eine komplexe Geschichte, in der es nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Wie gemacht für mich, denn schlichte Helden- und Erfolgsgeschichten langweilen mich.
Es war also der Skandal von 2011, der Sie hauptsächlich interessierte?
Das nicht, aber seinen Anfang nahm „High & Low“damit, dass ich begann, mich mit dem Phänomen Cancel-Culture zu beschäftigen. Während des Coronalockdowns las ich so viel über Menschen, die „gecancelt“wurden – und begann zu überlegen, wie man darüber einen Film drehen könnte. Die meisten Menschen, denen das passiert ist, wollten darüber nicht sprechen. Irgendwann schlug mir jemand John Galliano vor. Darauf bin ich angesprungen. Aber am Ende ist es nun ein Film geworden, der sich vor allem mit diesem Mann und seiner Biografie sowie mit der Mode beschäftigt.
Kann man überhaupt von CancelCulture sprechen, wenn der Mann – nach einer Pause – längst wieder als Designer erfolgreich ist? Hätte sich seine Karriere auch so schnell erholt, wäre die La-Perle-Episode zehn Jahre später passiert?
Das Interessanteste an der Cancel-Culture ist natürlich die Frage, wie man Vergebung erlangen kann. Heutzutage sind wir definitiv weniger versöhnlich als vor zehn Jahren. Gleichzeitig gibt es heute deutlich bessere Krisen-PR. Man hat gelernt, wie wirkungsvoll eine perfekte Entschuldigung sein kann. Aber auch sonst hat sich viel geändert. Damals war Johns extravagantes, manchmal wirklich schlechtes Benehmen ein Teil dessen, was ihn so erfolgreich machte. Er galt ein bisschen gefährlich und definitiv schwierig, was ihn umso mehr als Genie wirken ließ. Heute würde man das nicht mehr akzeptieren. Allerdings ist es nicht so, dass John völlig ungeschoren davongekommen wäre. Es gibt bis heute nicht wenige Menschen, die nichts mit ihm zu tun haben wollen.
Sie haben auch schon Dokus über Bob Marley oder Whitney Houston gedreht. Verkompliziert es die Sache, wenn die Person noch lebt?
Vor allem finde ich es sehr viel interessanter, wenn man mit einem noch lebenden Menschen zusammenarbeitet. Auch der andere Ansatz kann spannend sein, gerade bei jemandem wie Bob Marley, von dem es wenige eigene Interviews gab, so dass ich versuchen musste, ihm mittels vieler anderer Menschen nahezukommen. Doch es ist dankbarer, jemanden wie John Galliano zu haben, dem ich Fragen stellen kann, der mir großzügigerweise sehr viel seiner Zeit zur Verfügung stellte. So konnte ich viel gründlicher versuchen, ihn tatsächlich zu verstehen.
Besteht nicht gleichzeitig die Gefahr, dass man zu unkritisch und lobhudelnd wird, um die Person, die einem gegenübersitzt, nicht zu verärgern?
Ich bin so neugierig, dass ich mir nicht vorstellen kann, nicht immer weiter nachzubohren. Außerdem sagte John von Beginn an, dass kein Thema tabu ist. Seine einzige Bitte war, den Film nicht düster und trostlos enden zu lassen. Ihm war es wichtig, anderen Menschen, die mit Suchtproblemen ringen, zu zeigen, dass es Hoffnung gibt und man trotzdem ein gutes Leben führen kann.
Gab es Momente, in denen Sie das Gefühl hatten, eine Grenze zu überschreiten?
Nein. Ich habe mich nie selbst zensiert. Und John war immer bereit, über alles zu sprechen. Es gab nur einen Punkt, wo wir an eine Grenze stießen. Als es um das Verhältnis zu seinem Vater ging und die emotionalen wie physischen Misshandlungen, da konnte John irgendwann nicht weitersprechen. Das war zu schwierig, deswegen habe ich da nicht weitergefragt. Davon abgesehen herrschte immer komplette Offenheit.