Auf Feiern lesen, das Lesen feiern
Es wird wieder gelesen: Vorm DJ-Pult, auf Reading Partys in Bars und im Sitzkreis in Ligurien. Wie Liebhaberinnen das Image von Büchern aufpolieren.
s entsteht eine eigentümliche Atmosphäre in einem Raum, in dem viele Menschen sich gleichzeitig konzentrieren. Man denke an Universitätsbibliotheken oder an Prüfungssäle. Die Temperatur steigt um ein paar Grad, die Stille ist arbeitsam und intensiv, nie vollkommen, immer bewegt. Die Individuen gehen zumindest für kurze Zeit im Kollektiv auf. Vielleicht macht gerade das den Reiz für das Publikum von „Reading Parties“aus. Oder es sind DJs und Drinks, die Besucherinnen und Besucher anlocken. Beides möglich.
EBei „Reading Partys“liest jeder den eigenen Stoff, im eigenen Tempo. Ganz ohne Druck.
Seit Februar gibt es eine derartige Veranstaltungsreihe in Wien, die Idee dazu kommt aus den USA. Maria-Christina Schinko hat in der „New York Times“davon gelesen und prompt ein ähnliches Konzept umgesetzt. Die Instagram-Seite war schnell aufgestellt, recht flott auch ein Lokal gefunden – das Atlas in Neubau. Dort hält sie die Veranstaltung jetzt monatlich ab. Gemeinsames Lesen mit musikalischer Untermalung von unterschiedlichen DJs und, wie es für eine Bar üblich ist, Drinks. Niederschwellig soll es sein: Eintritt kostet es keinen, aber anmelden muss man sich (die nächste Ausgabe findet am 15. Mai statt). 20 bis 30 Menschen waren bisher immer da, mehrheitlich Frauen zwischen 20 und 30 Jahren. Manche kommen alleine, andere in Gruppen. Hat sich jeder eingefunden und verköstigt, beginnt die gemeinschaftliche Lektüre. „BYOB“, also „Bring Your Own Book“lautet die Devise und ist auch der Unterschied zum herkömmlichen Buchclub.
Ganz ohne Druck. „Das nimmt den Druck raus“, sagt Schinko. Druck, der sich im Lesekreis durchaus aufbauen kann. „Man hat da ja immer eine gewisse Zeit, ein bestimmtes Buch zu lesen, idealerweise machst du dir vor einem Treffen Gedanken dazu. Das ist wahnsinnig spannend, kann aber auch Stress bedeuten.“Bei den Partys liest es sich unverbindlicher. Nach eigenem Tempo, mit eigenem Stoff. Eine Stunde wird gelesen, dann dreht der DJ lauter, wechselt von Ambient-Musik zu etwas Tanzbarem. Man unterhält sich, manchmal wird tatsächlich getanzt, bis maximal null Uhr, dann ist Sperrstunde – jedenfalls unter der Woche.
Schinko selbst liest gerne, immer schon. Am liebsten eben in Gesellschaft, idealerweise am Strand. „Es braucht dafür aber Menschen, die auch die Ruhe haben, zwei Stunden zu liegen und nur zu lesen“, sagt sie. Nicht alle könnten das. Die, die es können, will sie mit ihrem Partyformat zusammenbringen. Das Anstoß gebende Format „Reading Rhythms“aus New York ist aus recht ähnlichen Gründen entstanden. Vier berufstätige Freunde haben sich immer weniger Zeit fürs Lesen genommen, immer ist etwas dazwischen gekommen: Beruf, Familie, die zu kurze Aufmerksamkeitsspanne. Die Gegenmaßnahme: Man liest gemeinsam in gemütlicher Umgebung. So bringt man Soziales und Bücherliebe unter einen Hut. Mittlerweile stehen über 200 Interessierte auf der Warteliste für die Veranstaltung in den USA. Das Format ist dort getaktet, auf eine halbe Stunde Lesen folgt eine halbe Stunde Unterhaltung mit dem Sitznachbarn, dann steckt man die Nase wieder ins Buch. Bianca-Maria Braunshofer und Katja Fetty, Gründerinnen der Buchhandlung O*books, finden großen Gefallen an dem Ablauf. Das Format wollen sie deshalb nach Wien bringen, doch es ist patentiert.
Kellner lesen mit. Die Anfrage an Reading Rhythms in New York, um eine der Veranstaltungen abhalten zu können, haben sie verschickt, bestätigt Braunshofer. Die Antwort wollte man allerdings nicht abwarten, bevor man ähnliche Lesepartys auch hier in Wien veranstaltet. Deshalb kooperiert O*books – übrigens kürzlich ausgezeichnet als Buchhandlung des Jahres – mit dem Boutiquehotel Superbude in der Leopoldstadt, um dort regelmäßige „Digital Detox Reading Parties“zu veranstalten. Auch im Wirtshaus Brösl ist man für eines der Events schon einmal untergekommen. Die Verpflegung ist lesekompatibel – fettet und tropft also nicht – , die Sessel bequem, die Kellner zurückhaltend. Im Brösl habe sich das Personal sogar zwischendurch dazugesetzt und mitgelesen. „Wenn man im selben Raum sitzt und liest, entsteht so eine Spannung. Das ist gar nicht esoterisch gemeint, aber da liegt eine fast meditative Energie in der Luft. Davon lässt man sich anstecken und nimmt auch nicht so leicht das Handy in die Hand“, sagt
Braunshofer. Aus dem gleichen Impuls sind auch ihre „Reading Retreats“entstanden, die O*books seit letztem Herbst schon veranstaltet. In einer Gruppe von acht Personen fuhren die beiden Gründerinnen für ein Wochenende an den Wolfgangsee, zum Lesen.
Das Rahmenprogramm falle da reduziert aus, lieber wolle man sich auf die Lektüre konzentrieren. Zeit wird eingeplant fürs Lesen alleine und in der Gruppe, am Abend wird in der Runde besprochen. „Wohin mit den ganzen Emotionen, dem Wissen, den Fragen, die einen beim Lesen bewegen? Da tut der Austausch mit Gleichgesinnten gut“, sagt Braunshofer.
Im Mai ist schon der nächste Ausflug nach Ligurien geplant, im November geht es auf das Schloss Drosendorf im Waldviertel. Der Herbstausflug soll eine familienfreundliche Reise werden, wo auch die Sprößlinge der Leseratten mitkommen können, zum Lesen und Lesenlernen. „Ich bin Sozialpädagogin im Erstberuf, Kinder mit Büchern zusammenzuführen ist also mein Traum“, sagt Braunshofer amüsiert. Überhaupt sprudelt sie, wie auch Maria-Christina Schinko, vor lauter Ideen, die noch darauf warten, umgesetzt zu werden – und die Nachfrage besteht. Jenen, die pessimistisch um den Fortbestand der Buchbranche und die Leselust der Massen bangen, kann man nämlich zumindest popkulturell aktuell viel entgegensetzen.
Begehrter Bücherwurm. Da ist einmal das modische Moment. Nicht nur nehmen sich viele junge Menschen das Stereotyp einer Bibliothekarin als Stilvorbild (Hashtag „Librarian Core“), das heißt schmale Brillen, enge Blusen, Bleistiftröcke – das Modelabel Miu Miu hat es schon 2023 vorgemacht. Sie tragen auch Namen berühmter Schriftstellerinnen plakativ auf Kapperln und T-Shirts am Leib. Zadie Smith, Patricia Lockwood, Lydia Davis, Mary Gaitskill sind nur ein einige davon. Ein ConceptStore für Bücher und Kunstartikel in den Vereinigten Staaten hatte eine Reihe davon auf den Markt ge
bracht, sie eilends aber wieder zurückziehen müssen: Man hatte die Autorinnen nicht um Erlaubnis gebeten, geschweige denn Gewinne geteilt. Dem Store wurde Ausbeutung vorgeworfen. Es gibt aber auch anderswo sogenannte Bücher-Merch, also Fanartikel zu Büchern oder ihren Autoren. Auch die noch recht junge Autorin Sally Rooney, die 2017 mit ihrem Buch „Conversations with Friends“ihren Durchbruch hatte (ein Jahr darauf folgte „Normal People“), brachte zu ihrem jüngsten Buch „Beautiful World, Where Are You?“unter anderem einen Regenschirm, eine Tragetasche und einen Hut heraus. Model und Schauspielerin Emily Ratajkowski flanierte im Herbst mit einer „Paris Review“-Kappe, dem Merch von einer Literaturzeitschrift mit Sitz in New York.
Freilich sind Slogans und Logos auf Kleidungsstücken nichts Neues. Man verschreibt sich aktuell aber recht gerne der vermeintlich anspruchsvolleren Kunst, der Hochkultur. Statt dem BandShirt trägt man jetzt die Autorinnen-Cap – und zeigt so die Liebe zum Buch oder gibt sie zumindest vor. Dass Lesen gerne als performativer Akt absolviert wird, hat – wie wahrscheinlich alles heutzutage – mit Social Media zu tun. Ein Foto der lesenden Kendall Jenners hat dort einmal die Runde gemacht, sogar Post-Its hat sie in ihre Lektüre gepickt. Als Timothée Chalamet in einem Interview ein paar Bücher empfahl, darunter „Verbrechen und Strafe“von Fjodor Dostojewski, fühlten sich gleich eine Handvoll Literaturkritiker im Netz dazu bemüßigt, die Werke zu bewerten. Großen Einfluss haben Popstars und Topmodels sowieso, und von denen haben im letzten Jahr gleich zwei unter 30-Jährige einen Buchclub gegründet: Sängerin Dua Lipa und Model Kaia Gerber, die Tochter von Cindy Crawford und Rande Gerber.
„Library Science“heißt ihr noch recht frisches Projekt. Weil Lesen sexy ist, wie Gerber sagt. Die 2001 Geborene will sich dort über Bücher austauschen, neue Autoren vorstellen und mit ihnen sprechen. Auf der Leseliste finden sich neben Sally Rooney und Lena Dunham auch Klassiker von Françoise Sagan, Oscar Wilde und Frank Wedekind (natürlich „Frühlings Erwachen“), auf Englisch übersetzt. Popstar Dua Lipa hat schon 2023 einen Buchclub eingerichtet, „service95“. Mit knapp 310.000 Followern auf Instagram zählt er zu den populärsten Plattformen, mit denen Schriftsteller heute liebäugeln. Zum Vergleich: Großbritanniens größte Literaturzeitschift „Granta“hat in etwa gleich viele Leser. Auch Dua Lipa, eigentlich bekannt für Popsongs wie „One Kiss“oder „Don’t Start Now“, führt Autorengespräche – schon mit Patti Smith, Brit Bennett, Min Jin Lee und Khaled Hosseini. Und zwar sehr detailliert; dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk würde man da vorwerfen, Menschen unter 30 verjagen zu wollen.
Kreativer Ansatz. Tatsächlich haben junge, gewiss auch populäre Menschen mit ähnlichen Vorhaben im linearen Fernsehen weniger Erfolg. Die ARD-Literatursendung „Studio Orange“mit Autorin Sophie Passmann endete schon nach der Pilotstaffel. Vielleicht aber eben, weil man sich extra jung geben wollte und betont locker über Literatur zu sprechen versuchte. Die Kritiken jedenfalls nannten das Ergebnis „pseudorebellisch“ und sprachen von viel verschenktem Potenzial. Mehr geglückt ist das Experimentieren im Live-Kontext, wie es diverse Schriftstellerinnen nun schon seit geraumer Zeit tun. Ihre Lesungen lockern sie durch Konzerte gewinnender Bands auf, immer wieder genehmigt sich das Publikum dazu ein Gläschen (oder zwei). Die Wienerin Stefanie Sargnagel hat ihr erstes Buch in Begleitung von Euroteuro gelesen, das zweite liest sie aktuell mit Christiane Rösinger von den Lassie Singers, eine Neunzigerjahre-Indie-Band aus Berlin. Erst kürzlich schrieb Sargnagel auf Instagram wie seltsam es sei, alleine vorzulesen „ohne Musikshow usw.“.
Beim Büchertalk „Words & Whiskey“hat man im 25 Hours Hotel einen Besuch von Jungautorin Eva Reisinger mit einem darauffolgenden LiveDJ-Set verbunden. Im Westlicht las Schauspielerin Verena Altenberger kürzlich unter großem Andrang aus der Britney-Spears-Biografie „The Woman in Me“vor, das Duo Hanv – Judith Altenberger und Simone Früchtl – hat dazu Songs vom US-Popstar auf dem Hackbrett interpretiert.
Fernab des teils schnöden und
nd starren Antlitzes der Hochkultur zeigen
Lesungen derzeit also vermehrt Bodennähe und Popglanz. Hat doch nicht zuletzt TikTok vorgemacht, wie man viele junge Leserinnen und Leser auch heute noch erreichen kann, mit etwas Witz und den richtigen Tanzbewegungen.
Zahlen aus Großbritannien scheinen den Trend zu bestätigen: 2023 wurden dort rund 669 Millionen Bücher in gedruckter Form verkauft, der höchste jemals verzeichnete Wert.
Die Jungen machen einen Großteil der Bücherkäufe, zumindest in Großbritannien.
Untersuchungen des Marktforschungsinstituts Nielsen haben außerdem ergeben, dass zwischen November 2021 und 2022 80 Prozent der Buchkäufe auf die Generation Z zurückgehen, also jene nach 1996 Geborenen. Da soll einer noch einmal sagen, die Jungen lesen nicht – oder kaufen sie nur? Dem kann man entgegenhalten, dass auch die britischen Bibliotheken letztes Jahr über 71 Prozent mehr Besuche jubelten. Was einmal mehr beweist: Dem kollektiven Lesen wohnt wohl immer noch ein Zauber inne.
Buch-Fanartikel und AutorenMerch sind aktuell in Mode. Die Prominenz macht es vor.