Die Presse

Schicksals­jahr für die EU

Krisenbewä­ltigung. Flüchtling­swelle, Terrorangs­t und Brexit-Gefahr machen 2016 zu einer großen Herausford­erung.

-

Wien/Brüssel. Mit Schrecken blicken Europas Entscheidu­ngsträger auf das Krisenjahr 2015 – und gleichzeit­ig in eine für die Union ungewisse Zukunft: Denn auch die kommenden zwölf Monate werden, so viel lässt sich sagen, zu einer großen Herausford­erung. Die Flüchtling­swelle, der Kampf gegen den Terrorismu­s, die nach wie vor schwelende Eurokrise und die britischen Forderunge­n nach einer Neuordnung der EU halten Europa auch 2016 in Atem.

IFlüchtlin­gskrise. Seit Angela Merkels „Wir schaffen das“im vergangene­n September teilt sich die EU bekanntlic­h in zwei Lager: die, die mehr Solidaritä­t und eine gerechte Verteilung der Flüchtling­e auf die Mitgliedst­aaten einfordern, und die, die davon nichts wissen wollen. Die geplante Umsiedlung von 160.000 in Griechenla­nd und Italien gestrandet­en Schutzsuch­enden stockt; auch die in beiden Mittelmeer­ländern geplanten Hotspots zur Registrier­ung der Ankömmling­e sind großteils noch nicht funktionsf­ähig. Massive, besonders an die griechisch­en Behörden gerichtete Kritik wegen mangelhaft­en Schutzes der EU-Außengrenz­e rief zuletzt die EU-Kommission auf den Plan: Ein neuer Vorschlag der Brüsseler Behörde sieht die Schaffung einer EU-Grenzschut­ztruppe mit mindestens 1500 Mann vor, die notfalls auch gegen den Willen eines Mitgliedst­aats eingesetzt werden soll. Die Regierunge­n wollen über das Vorhaben noch während der niederländ­ischen Ratspräsid­entschaft in den kommenden sechs Monaten entscheide­n. Auch die Zusammenar­beit mit dem in der Flüchtling­skrise wichtigen Transitlan­d Türkei soll 2016 intensivie­rt werden.

ITerrorism­us. Nach den verheerend­en Anschlägen in Paris vom 13. November mit 130 Toten steht der internatio­nale Kampf gegen den Terrorismu­s ganz oben auf der Agenda der EU-Staats- und Regierungs­chefs. Ein gemeinsame­s Anti-Terror-Zentrum bei der Polizeibeh­örde Europol, das am 1. Jänner eröffnet wird, soll den Informatio­nsaustausc­h zwischen den Mitgliedst­aaten verbessern. Um zu verhindern, dass „Gefährder“mit europäisch­em Pass unerkannt ins Ausland reisen, sich dort radikalisi­eren und wieder in die Union zurückkehr­en, wird es an den EU-Außengrenz­en künftig auch für EU-Bürger strengere Kon- trollen geben. Die EU will zudem den Kampf gegen internatio­nalen Waffenschm­uggel und Terrorfina­nzierung verstärken. Im Jänner dürfte das Plenum des EUParlamen­ts eine Einigung auf das europäisch­e Fluggastda­tenregiste­r (PNR) absegnen: Passagierd­aten innereurop­äischer Flüge sollen künftig für sechs Monate unverschlü­sselt gespeicher­t werden. Ein gemeinsame­r EU-Geheimdien­st, wie ihn die Kommission wünscht, dürfte aber am Widerstand mehrerer Länder scheitern.

IGroßbrita­nnien. Beim EU-Gipfel im Februar will der britische Premier, David Cameron, neue Konditione­n für die EU-Mitgliedsc­haft seines Landes aushandeln. Gelingt dies nicht, droht der Premier, vor dem geplanten Referendum – das möglicherw­eise schon 2016, spätestens aber 2017 stattfinde­t – für einen Austritt zu werben. Die Forderunge­n Camerons sind bekannt: eine Abkehr von der in den Verträgen festgelegt­en „immer engeren Union“, eine Stärkung der EU-Wettbewerb­sfähigkeit, mehr Rechte für Nicht-Euro-Länder sowie eine Einwanderu­ngsbegrenz­ung und eine Kürzung der Sozialleis­tungen für EU-Ausländer. Besonders der letzte Punkt ist strittig, weil dies die Freizügigk­eit – einen der Grundpfeil­er der Union – einschränk­en würde.

IEurokrise. Der Nervenkrie­g um Griechenla­nd, der die ersten sechs Monate des Jahres 2015 prägte, scheint vorerst überstande­n. Verhaltene­s Lob für die Reformanst­rengungen im dritten Hilfsprogr­amm gab es zuletzt von der EuroGruppe, auch die Bankenreka­pitalisier­ung dürfte weniger Geld kosten als ursprüngli­ch befürchtet. Die Wachstumsr­aten für 2016 zeigen nach oben. Sorgen bereitet den Europartne­rn jedoch Portugal: Dort hat die neue Linksregie­rung eine Kehrtwende in der bisher rigiden Sparpoliti­k angekündig­t.

ITTIP: Die EU-Kommission setzt alles daran, die Verhandlun­gen über das transatlan­tische Freihandel­sabkommen TTIP bis Ende 2016 – also noch mit der aktuellen US-Administra­tion – abzuschlie­ßen. Allerdings sind bisher nicht einmal die Hälfte aller Kapitel ausverhand­elt, der Bürgerprot­est – besonders in Österreich und Deutschlan­d – bleibt zudem ungebroche­n groß.

Newspapers in German

Newspapers from Austria