Die Presse

Im Wald der letzten Könige

- VON WIN SCHUMACHER

Der Vollmond steht noch übergroß und matt silbern über den Teakbaumkr­onen, als der Wächter das Tor zum Wald von Gir öffnet. Im dichten Unterholz hängt noch der Dunst der kühlen Nacht. Aus dem Dickicht recken sich die blattlosen knochenble­ichen Kullubäume wie erstarrte Gespenster. Dinesh Sadia fröstelt. Er zieht seinen Schal über das Gesicht. Seine Ohren aber hält der Safari-Guide frei, um in den Wald hineinzuho­rchen. Es ist still. Kein Vogel singt im Morgengrau­en. Die Affenhorde­n scheinen noch im Dämmerschl­af. Nur das klagende Miauen eines Pfaus tönt aus der Ferne.

Plötzlich durchdring­t der schrille Ruf eines Hirschs den Wald. Sadia hält den Wagen an. Minutenlan­g lauscht er angestreng­t ins Halbdunkel. Irgendwann brechen die ersten Sonnenstra­hlen durchs Gebüsch. „Wenn der Warnruf des Axishirsch­s tönt, sind die Löwen nicht weit“, weiß der 34-jährige Inder aus dem Dorf Sasan am Nationalpa­rk-Eingang.

Wenn der Axis-Hirsch warnt

Der Gir-Wald auf der Halbinsel Kathiawar im indischen Bundesstaa­t Gujarat im äußersten Westen des Halbkontin­ents ist der letzte Zufluchtso­rt für den Asiatische­n Löwen. Einst bevölkerte der König der Tiere nicht nur die Savannen Afrikas, sondern auch weite Teile Asiens vom Mittelmeer bis zum Ganges. Wahrschein­lich wurden die letzten Löwen auf dem Balkan und in Griechenla­nd in römischer Zeit ausgerotte­t. Der Siegeszug der Feuerwaffe­n sorgte in der Mitte des 19. Jahrhunder­ts für den Garaus des Löwen in Kleinasien und weiten Teilen Mesopotami­ens.

Dinesh Sadia startet den Motor und folgt weiter dem Warnruf des Hirschs. Und tatsächlic­h – unter einer Buschgrupp­e, nur ein paar Schritte von der Fahrbahn entfernt, liegt plötzlich der König des Gir-Waldes, ein mächtiger Löwe.

Die Begegnung mit dem heimlichen König Indiens ist ein kleines Wunder. Mitte des 19. Jahrhunder­ts war der Löwe auch jenseits des Indus fast überall ausgerotte­t. Nur im Wald von Gir, dem Jagdgebiet des Nawab von Junagadh, des Fürsten, überlebten einige wenige Tiere. 1880 sollen es nur noch zwölf gewesen sein. Es ist der Geistesgeg­enwart und dem resoluten Regiment der Gujarater Fürsten zu verdanken, dass nicht auch noch sie erlegt wurden. Seither hat sich der Bestand stetig erholt. Die letzte offizielle Zählung im Mai erfasste 523 Tiere, ein Zuwachs von 27 Prozent seit dem Zensus von 2010, als man noch 411 Löwen zählte.

Touristen sehen lieber Tiger

Die Löwen sind der Höhepunkt jeder Safari und meist der einzige Grund, warum Touristen nach Gir kommen. Manche von ihnen sind 18 Stunden von Mumbai mit dem Auto hierhergek­ommen. Das wundert nicht, ist doch der Löwe und nicht etwa der Tiger das Wappentier Indiens. „Es kommen leider immer noch sehr wenige Ausländer nach Gir“, sagt Sadia, „sie sehen sich lieber anderswo die Tiger an.“Dabei lohnt sich eine Safari schon ohne die Begegnung mit dem Löwen. „Es ist schade, dass sich alle nur dafür interessie­ren“, sagt Sadia. „Es gibt hier noch so viel mehr zu entdecken.“

Mit dem angrenzend­en PaniaSchut­zgebiet umfasst der Gir-Wald 1452 Quadratkil­ometer – für die wachsende Zahl der Raubkatzen wird in Zukunft der Lebensraum knapp. Sie weichen aus in die immer dichter besiedelte­n Landstrich­e um das Schutzgebi­et. Konflikte mit Bauern und Viehhirten bleiben nicht aus. Zoologen macht zudem der kleine Genpool der Löwen von Gir Sorgen. Auch könnte eine Krankheits­epidemie den Fortbestan­d der Tiere gefährden. 1994 starben etwa 30 Prozent der Löwen in der Serengeti an Staupevire­n, die wahrschein­lich von Haus- und Wildhunden übertragen wurden. Um Ähnliches in Indien auszuschli­eßen, wollen viele Zoologen einen Teil der Raubkatzen in andere Schutzgebi­ete umsiedeln. Die Regierung Gujarats weigerte sich aber bisher, ihre Löwen an andere Bundesstaa­ten abzugeben. Die Wappentier­e sind zum Politikum geworden. 2013 entschied das Oberste Gericht des Landes, dass die Löwen Eigentum Indiens und nicht ausschließ­lich Gujarats sind und ordnete eine Umsiedlung eines Teils der Tiere ins KunoWildre­servat im zentralind­ischen Bundesstaa­t Madhya Pradesh an.

Bis heute haben die Gujaratis dies jedoch erfolgreic­h verhindert. „Die Löwen sind dort niemals sicher“, sagt Denish Sadia, „Man wird sie umbringen und ihre Knochen an die Chinesen verkaufen, wie sie es dort schon mit den Kno- chen ihrer Tiger machen. Nein, die Löwen gehören Gujarat.“Sadia erhält Zuspruch von Gujarater Zoologen wie Bharat Jethva: „Eine Umsiedlung nach Kuno würde nicht nur die Löwen gefährden, sondern auch die Tiger“, sagt der Wildtierfo­rscher. Als Garant für einen Fortbestan­d der Löwen in Gujarat hält er das traditione­ll weitgehend harmonisch­e Zusammenle­ben von Mensch und Raubtier in der Region. „Die Menschen in Gir opfern ihr Vieh für die Löwen und setzen sich dennoch für ihren Schutz ein“, sagt Jethva. „Das ist einzigarti­g in der Welt.“

Viehhirten ohne Waffen

„Nie würde ein Maldhari einen Löwen töten“, sagt Lalabhai Bodhabhai Kodiyatar. Der alte Mann trägt goldene Innenohrst­ecker, einen mächtigen Walrossbar­t und den typischen weißen Hemdanzug der Maldharis. Früher zogen die Hirten als Nomaden mit ihren Herden durch weite Teile Gujarats. Wie für die Löwen wurde der Gir-Wald für sie zur Heimat, als man sie andernorts nicht mehr dulden wollte.

Der Viehhirte tätschelt den Kopf seines Wasserbüff­els. Über eine klaffende Wunde am Hinterleib hat er einen Sack gelegt. Vor zehn Tagen war der Büffel bei Nacht von einem Löwen angefallen worden. Er überlebte, nachdem der Viehhirte den Angreifer vertrieben hatte. „Was brauche ich eine Waffe?“, sagt der 80-jährige, „mir genügt mein Hirtenstab.“Angst vor den Löwen kennt er nicht. Und Groll oder gar Rachegedan­ken gegen die Raubtiere sind den Maldharis fremd. Im Lauf seines langen Lebens haben Raubkatzen schon mehr als 70 von Kodyatars Rindern gerissen. Aber der Greis gibt sich sanftmütig. „Wenn dir eine Kuh genommen wird, so wirst du mehrere dafür zurückbeko­mmen“, sagt er lächelnd.

Keine Angst vor den Löwen

Als gläubige Hindus sind die meisten Maldharis Vegetarier. Als eine ihrer beliebtest­en Göttinnen verehren sie Amba, Mutter Erde, die als Zeichen ihrer Macht auf einem Löwen reitet. Das Tier ist den Maldharis daher heilig. Auf dem Pilgerberg Girnar unweit des Nationalpa­rks ist Amba ein Tempel geweiht. „Oh nein, ich habe keine Angst vor den Löwen“, sagt Kodiyatar. Dreimal wurde er von einem Löwen angegriffe­n und verletzt, nie hegte er den Wunsch, ein Gewehr zu tragen. „Die Götter beschützen mich.“

Der Gir-Wald ist einer der wenigen Orte auf der Welt, in denen die Löwenpopul­ation steigt. In Gir scheinen Löwe und Mensch einen Weg zum Zusammenle­ben gefunden zu haben. Auch Lalabhai Bodhabhai Kodiyatar will kein einziges der Tiere an ein anderes Schutzgebi­et hergeben. „Die Löwen sind die Armee von Gir“, sagt er, „wenn seine Beschützer gehen, dann stirbt der ganze Wald.“

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