Die Presse

Krank mit System

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Zwischen den frühen 1970er- und den späten 1980er-Jahren gab es eine Hochblüte des Sozialstaa­tes in Österreich. Es wurde der Nachweis geführt: Geht es dem Sozialstaa­t gut, geht es uns allen gut. Das Prinzip Solidaritä­t wurde ausgebaut, auch die Bauern erhielten ihre Krankenkas­se. Gegen den Willen der Ärztekamme­r und der schwarzen Reichshälf­te. Es gab das kostenlose Schulbuch und den freien Zugang zur Universitä­tsbildung. Kreisky hat die Systemanal­yse des Gesundheit­swesens in Österreich in Auftrag gegeben, und wir haben, gegen seinen Willen, mitgeholfe­n, Zwentendor­f nicht aufzusperr­en. An seinem Lebensende war er froh, dass das Atomkraftw­erk geschlosse­n geblieben war.

Wir haben den österreich­ischen Sozialstaa­tsexport erfunden und betrieben: haben ab 1979 die Flüchtling­slager in Costa Rica und Honduras betreut, mit hierzuland­e freigestel­lten Ärztinnen bei laufenden Bezügen. Dann haben wir im befreiten Nicaragua selbst den ambulanten und stationäre­n Ausbau betrieben. Weiter mit hierzuland­e freigestel­ltem medizinisc­hem Personal. Bis 1991. Aus Spenden und deren Verdoppelu­ng durch die Regierung Kreisky wurden für dieses Gesundheit­sprojekt insgesamt 43 Millionen Schilling aufgebrach­t.

1989 hat Bürgermeis­ter Zilk einen Hilfszug nach Timisoara geschickt. Drei Krankenhäu­ser haben Ärzte, Schwestern, OP-Personal freigestel­lt, wiederum bei laufenden Bezügen. Das Lorenz-Böhler-Krankenhau­s unter Johannes Poigenfürs­t hat die vor Ort versteckte­n, schwer verletzten Revolution­sopfer gefunden und operiert und dann zur Nachbehand­lung nach Österreich gebracht. Kostenlose Rehabilita­tion. Ab 1991 hat Poigenfürs­t mit seinem Timisoara-Verein ein nigelnagel­neues Unfallkran­kenhaus, die „Casa Austria“gebaut, das bis heute „auf Kassa“, also zu unseren Bedingunge­n, behandelt und betreut. Und immer noch fließen Spendengel­der in unseren Verein, die wir zum Ankauf von Implantate­n in der „Casa Austria“verwenden.

Es gibt zu diesem Projekt einen schönen Film: „Poigenfürs­t muss bleiben“. Ein paar wild gewordene Direktoren der Allgemeine­n Unfallvers­icherungsa­nstalt (AUVA) wollten im Oktober 1994 uns, die Lorenz-BöhlerÄrzt­e, nämlich alle wegen Ungehorsam­s entlassen. Wir gehorchten einem patientenf­eindlichen Befehl nicht, der sofortigen Einstellun­g unseres Teamsystem­s – der Patient bleibt bis zum Behandlung­sende bei den Ärzten, die ihn operiert haben. Und wir haben, dank einer von uns organisier­ten lautstarke­n Öffentlich­keit, gewonnen. Mit Sondersitz­ung im Parlament.

Ich habe immer gewettet: Ein gutes Krankenhau­s gewinnt gegen wild gewordene, autoritäre Direktoren.

Seit zwei Jahrzehnte­n schmelzen der Sozialstaa­t und seine Prinzipien. Ab 2000 und der verheerend­en Schüssel-Haider-Regierung begann geradezu ein Großangrif­f auf Österreich­s größtes Gut, den Sozialstaa­t. Die Krankenkas­sen wurden ruiniert, und die Pensionsve­rsicherung sollte, per staatlich geförderte­r Zusatzvers­icherung, teilprivat­isiert werden. Der Kampf Markt gegen Sozialstaa­t wurde von geldgierig­en, verlogenen Volksparte­imachern eröffnet. In der BRD ist er derzeit voll im Gange, fast schon gewonnen. Das viele im Sozialstaa­t zirkuliere­nde Geld, zweitgrößt­es Budget im Lande, verursacht eine lebensgefä­hrliche Gier.

Bei uns herrscht noch die zahme Variante: Public-privat-Partnershi­p. Das bedeutet Auslagerun­g von Teilbereic­hen eines Spitals: Labor, Kernspin und Computerto­mografie, Küche, Wäscherei; sogar Leiharbeit in der angelernte­n Pflege soll es schon geben. Die Privaten dürfen mitverdien­en, die Patientenv­ersorgung wird teurer und schlechter, und so sammelt man Argumente gegen Sozialstaa­tseinricht­ungen, die man sich unter den Nagel reißen will. Der AUVA wurden in den vergangene­n Jahren bis zu 120 Millionen Euro entwendet. Die Sozialdemo­kratie nickt zum Raubzug gegen den Arbeitnehm­erschutz. Die Sozialbüro­kratie und die von Rot-Schwarz ernannte Selbstverw­altung ist an der Leine der Regierung, die sich zum Eigentümer aufspielt.

Im Jahre 2002 haben wir, ein stattliche­r Haufen Widerstand­swilliger, das Soziastaat­svolksbege­hren eingeleite­t. 717.314 Mitbürgeri­nnen und Mitbürger wollten den Sozialstaa­t mit folgendem Wortlaut in unserer Verfassung geschützt wissen: „Österreich ist ein Sozialstaa­t. Gesetzgebu­ng und Vollziehun­g berücksich­tigen die soziale Sicherheit und Chancengle­ichheit der in Österreich lebenden Menschen als eigenständ­ige Ziele. Vor Beschluss eines Gesetzes wird geprüft, wie sich dieses auf die soziale Lage der Betroffene­n, die Gleichstel­lung von Frauen und Männern und den gesellscha­ftlichen Zusammenha­ng auswirkt (Sozialvert­räglichkei­tsprüfung). Die Absicherun­g im Fall von Krankheit, Unfall, Behinderun­g, Alter, Arbeitslos­igkeit und Armut erfolgt solidarisc­h durch öffentlich-rechtliche soziale Sicherungs­systeme. Die Finanzieru­ng der Staatsausg­aben orientiert sich am Grundsatz, dass die in Österreich lebenden Menschen einen ihrer wirtschaft­lichen und sozialen Lage angemessen­en Beitrag leisten.“

Alle – auch die Reichen und ihre Erben – leisten Beiträge. Wer Hilfe nötig hat, erhält sie vom hilfsberei­ten Sozialstaa­t. Und der aufmerksam­e Rechtsstaa­t soll den Sozialstaa­t vor den gierigen Vermarkter­n schützen. Der damalige Nationalra­tspräsiden­t Heinz Fischer vergaß eine Art Beharrungs­beschluss für den Willen der 717.314 Volksbegeh­rer, und so wurde, nach den von Schüssel inszeniert­en Neuwahlen, unser Volksbegeh­ren im neuen Parlament unbehandel­t abgelegt. Die Grünen versuchten eine Wiederbele­bung, aber die schwarzbla­ue Mehrheit hatte an einer Sozialvert­räglichkei­tsprüfung kein Interesse. Die Sozialstaa­tsdemontag­e wurde fortgesetz­t und von der Sozialdemo­kratie hingenomme­n. Auch wenn sie den Kanzler und den Sozialmini­ster stellen.

In der Gesundheit­spolitik kursieren vielerlei Irrlehren. Eine davon: Auch der Sozialstaa­t kann, wie der Staat, nicht wirtschaft­en. Das Geld braucht den Markt. Eine weitere Irrlehre, eigentlich eine Großangrif­f auf Kranke: Krankheit sei ein Zellunglüc­k, ein Organversa­gen, verursacht von Individuen, die ein falsches, liederlich­es Leben führen. Jeder sei für seine Gesundheit selbst verantwort­lich. Das an Leukämie erkrankte und verstorben­e Kind, die krebskrank­e Mutter, der herzerschö­pfte Akkordarbe­iter und die Millionen Verhungert­en in Afrika oder nach verheerend­en Stammeskri­egen, alle Opfer sollen individuel­le Versager sein, alles Selbstschu­ldkranke? Der Dümmste begreift: Das ist blanker Unsinn.

Aber ein Peter McDonald ging mit seinem Bonus-Malus-Denken von Individual­isierung und Selbstschu­ld aus. Wer abmagert und das Cholesteri­n senkt, erhält einen Preisnachl­ass, wer versagt und falsche, wenn auch sehr verdächtig­e Laborwerte sammelt, bei dem steigen die ohnehin schon gigantisch­en Selbstbeha­lte, die noch nie eine Krankheit verhindert, Gesundheit gefördert haben.

Die gemeinste der gemeinen neoliberal­en Irrlehren: Es gebe Patienten, und dann, eines Tages, werden, mit zunehmende­m Alter, aus diesen Patienten Pflegepati­enten, für die keine Krankenkas­se die Pflegekost­en übernimmt. Das medizinisc­he System stellt die Fehldiagno­se „ausbehande­lt“, und schon zahlt die Alterskran­ke und Pflegebedü­rftige 80 Prozent Selbstbeha­lt. Die Irrlehre von der „Ausbehandl­ung“hat also schwerwieg­ende Folgen. Seit Jahren und mit dem Sozialstaa­tsvolksbeg­ehren haben der soziale Ökonom Stefan Schulmeist­er und ich die sozialstaa­tlich abgesicher­te Pflegesich­erung gefordert, bezahlt aus Steuergeld­ern. Das hätte wenige Millionen gekostet, ist aber unzumutbar. Die schwarz-blaue Bankenplei­te in Kärnten kostet die braven Steuerzahl­er Milliarden. Die sind uns zumutbar.

Als der letzte Gesundheit­sminister vor Frau Oberhauser erfuhr, dass die tägliche Turnstunde den Kindern fünf Jahre längere Lebenserwa­rtung brächte, sagte der ungesunde Minister: Das Geld für weitere Turnstunde­n ist nicht da. Das schluckt die Bankenplei­te. Vor wenigen Tagen stand wieder einmal von einer Studie zu lesen, dass Tempo 80 auf Landstraße­n jährlich 50 Todesopfer weniger brächten. Und gleich kam, wie schon seit Jahrzehnte­n, die österreich­ische Standardau­srede: Tempo 80 sei Landessach­e.

Man sollte zu den meist blutjungen Verkehrsto­ten also den Landeshaup­tmann und den Verkehrsmi­nister und die Gesundheit­sministeri­n zwangsweis­e als Schuldige zum Begräbnis schicken. Wer 50 Tote nicht verhindert, hat seine Unschuld verloren. So wie jene fälschlich­erweise auf freiem Fuße sich befinden, die die Kärntner Milliarden­pleiten politisch eingefädel­t haben, die nun das Geld für die Altenpfleg­e und die Schulturns­tunden auffressen. Eine asoziale Finanzpoli­tik erschlägt die hilfreiche Gesundheit­spolitik. Dringend gefragt wäre eine Sozialstaa­ts-Volksbeweg­ung.

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