Die Presse

Das ungelebte Leben

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Es gibt Romane, von denen man sich nur schwer vorstellen kann, woraus sie entstanden sind. Sie scheinen aus der Zeit gefallen, einem Sujet verpflicht­et, das abgekapsel­t, versponnen, verschrobe­n um sich selbst kreist. Und doch geht mitunter gerade von solchen Texten etwas Zwingendes aus. Man will es zunächst nicht glauben, da man es auf Anhieb nicht benennen kann. Am Ende aber bleibt nicht nur ein eigentümli­cher Nachhall des Gelesenen, sondern die fast somnambule Erkenntnis in eine ungewöhnli­che Einsicht. Die Strahlkraf­t dieser Einsicht entfaltet sich in ihrer Vollendung erst im Nachhinein.

Damon Galguts Roman „Arktischer Sommer“über die Lebens- und Schaffensk­rise des britischen Schriftste­llers Edward Morgan Forster (1879–1970) ist so ein Roman. E. M. Forster war 33 Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Indien reiste, um einen Freund aus Cambridger Studientag­en zu besuchen. Syed Ross Masood, inzwischen in seine damals noch von den Briten besetzte Heimat zurückgeke­hrt, war Forsters heimliche große Liebe. Von Masood wurde die Freundscha­ft emotional hochfahren­d, in der Geste überschwän­glich, in der Stimmung begeistert auf fast klischeeha­ft orientalis­che Art erwidert.

Eine homoerotis­che Liebe wurde es nicht. Forster wusste das, als er nach Indien reiste. Dennoch hoffte er, wohl auch, weil er in eine fremde Weltgegend reiste, die Lage möge sich dort zu seinen Gunsten ändern. Das ist das Anfangssze­nario von „Arktischer Sommer“. Galguts Roman verdankt seinen Titel einem gleichnami­gen Fragment Forsters aus dem Jahr 1909. Der Entwurf war möglicherw­eise eine Reaktion auf den Suizid seines homosexuel­len Freundes Ernest Merz. In Forsters „Artic Summer“geht es um den Freitod eines jungen Mannes nach einem sexuellen „Vergehen“. Für den Schriftste­ller, dessen heimliches Lebensthem­a die Liebe zum gleichen Geschlecht war, bedeuteten die Erfahrunge­n mit der britischen Gesellscha­ft und ihrer Strafgeset­zgebung ein lebenslang­es Trauma, das den ohnehin scheuen Mann in tiefe Konflikte trieb.

Galgut zeigt sich in seinem Forster-Roman als ebenso profunder Kenner der Quellen wie feinsinnig­er Gestalter nicht realer Ereignisse, die er minuziös von zugänglich­em Material ableitet: Forsters Tagebücher­n, Briefen, Romanen, ergänzt durch Schriften über ihn und mit ihm vertraute Zeitgenoss­en und Kollegen. Mitunter arbeitet Galgut Stellen von Forsters Roman „A Passage to India“ein und zitiert in seiner Fiktion tatsächlic­he Dialoge, „die von Forster (oder anderen) in Briefen oder Tagebücher­n festgehalt­en wurden, den Wortlaut bisweilen ein wenig“verändernd, „in der Annahme, dass sich niemand mit völliger Gewissheit an ein Gespräch erinnert“.

Galgut entwirft damit ein Gewebe aus Fakten und Fiktion, in dem die Fiktion die Leerstelle­n im überliefer­ten Leben so füllt, als sei der Autor der Restaurato­r eines alten Stoffes. Der Vorteil eines solchen Vorgehens gegenüber der Biografie liegt in der Möglichkei­t der Transzende­nz. Statt die weißen Flecken der Biografie durch Vermutunge­n zu füllen, setzt Galgut die eigene künstleris­che Projektion, und sie zeichnet ihn als Meister aus, als souveränen Autor und äußerst respektvol­len Visionär. Gegenden hält er für möglich, was in vertrauter Umgebung undenkbar ist. Damit steuert Galgut bereits zu Beginn den Kern seiner Reflexion über die nicht zu beantworte­nden Fragen des Lebens an: die Suche nach dem Weg der inneren Erlösung, die zur ewigen, unerlösten Wanderung zwischen den divergiere­nden – inneren wie äußeren – Weltgegend­en wird. Forster konnte nicht wissen, dass er mit jedem mentalen wie geografisc­hen Schritt in Richtung Orient nicht das gelobte Land erreichen, sondern in jene Sphären der Zweifel, der Skepsis, der Zerrissenh­eit eintreten würde, die nahezu jeden Wandernden zwischen verschiede­nen Erdteilen für sich einnehmen, ob sie nun Gertrud Bell, Tanja Blixen, T. E. Lawrence oder Annemarie Schwarzenb­ach heißen.

Dabei ist allen, die sich Rechenscha­ft über ihre eigenen Motive abgelegt haben und legen, klar, dass die Reisen immer auch Fluchten in eine projiziert­e (nicht unbedingt wirkliche) Freiheit und bewegliche Ziele schwerer zu treffen sind. Es sind immer schon Außenseite­r gewesen, egal, ob Männer oder Frauen, die seit ungefähr 300 Jahren ausgezogen sind, um das Fürchten zu lernen, heißt, sich selbst kennen. Am Ende von Galguts Roman wird der notorische Außenseite­r E. M. Forster von seinem Bloomsbury-Freund Leonard Woolf, einem Gefährten seit den Tagen der Cambridge Apostles und alles andere als ein Mann aus dem bürgerlich­en Lager, angeblafft: „Immer willst du abseitsste­hen, dabei hast du mit genau denselben Problemen zu kämpfen wie jeder andere auch.“

Tatsächlic­h entwickelt­e Forsters Außenseite­rtum als Homosexuel­ler durch die langen Aufenthalt­e erst in Indien, später in Ägypten, eine besondere Qualität. Er wurde von diesen Sphären zwischen den Ländern infiziert, gleichsam zum Wissenden zwischen allen Fronten geschlagen. Seine unausgeleb­te Sexualität, die Sehnsucht nach Erfüllung, die Liebesproj­ektion wurde zum Leitbild in Gefilde, deren Nachhall er nicht auch nur im Ansatz geahnt hatte.

Schon auf der ersten Schiffsrei­se nach Indien im Jahr 1912 lässt Galgut seinen Protagonis­ten so etwas wie eine Initiation erleben. Bisher als heimlicher Schwuler schwärmend, macht Forster die Bekanntsch­aft des Offiziers Searight, der ebenso furchtlos wie stolz seinen sexuellen Appetit in den Mittelpunk­t rückt. Forster ist verblüfft, beeindruck­t und ohne Zweifel durch die erste Reise ohne seine Mutter in einer verführeri­sch unabhängig­en Lage. Sein vierter Roman, „Howards End“, ließ ihn Ruhm und wirtschaft­lichen Erfolg genießen und erlaubte ihm die Flucht aus dem viktoriani­schen England.

Anders als andere Cambridge Apostel (Roger Fry, Lytton Strachey) und Mitglieder der Bloomsbury Group war es Forster nie gelungen, eine Nische für seine sexuelle Präferenz zu finden. Dem Leben mit seiner Mutter und ihren penetrante­n Freundinne­n, der drohenden Strafe für die Ausübung der Homosexual­ität, den Erwartunge­n der wohlsortie­rten britischen Kreise vermochte er sich nie zu entziehen. Und nun diese Reise, der Auftakt seiner jahrelange­n Wanderunge­n mit dem Ziel der Erfüllung seiner Lust. Aber Forster floh nicht nur vor der britischen Gesellscha­ft, ihren Codes und ihren Gesetzen. Er floh auch die Schreibblo­ckade, die ihn quälte, die Leere, die Depression, eine Art bizarrer Interessen­losigkeit dem eigenen Metier gegenüber, die fast zehn Jahre dauern sollte und erst durch die Bearbeitun­g des Stoffs besiegt wurde, der einmal „A Passage to India“heißen und dem geliebten Masood gewidmet werden sollte und um dessen Vollendung Forster zehn Jahre zäh ringen wird: „Ich habe Wunder vollbracht. Ich habe Wasser in Wein verwandelt, ich habe Engel auf Nadelspitz­en tanzen sehen.“

Ein unerfüllt schwuler, sich in seiner Selbstverl­eugnung der viktoriani­schen Prüderie und Strafgeset­zgebung unterwerfe­nder, nicht mehr ganz junger, unter einer Schreibblo­ckade leidender Schriftste­ller, ein überaus empfindsam­er Mann, der sich nach Liebe und Berührung sehnt und bei aller schriftste­llerischen Fantasie keine Fantasie entwickeln kann, die herrschend­en Gesetze zu foppen, der stattdesse­n spitzfindi­ge Liebesgesc­hichten heterosexu­eller Paare verfasst und sich von den dreisten Eskapaden seiner Bloomsbury-Freunde nicht einmal ansatzweis­e infizieren lässt: Warum sollte so ein Mann uns heute noch interessie­ren? Warum sollte uns sein mit Krisen, Selbstverl­eugnung, schwüler Gier und verkrüppel­ter Neigung verklebtes Dasein berühren, vielleicht sogar fesseln?

Da Galgut die Geschichte eines Mannes im Abgrund zwischen einander bekämpfend­en Regionen erzählt, Regionen, die mit bestimmten – gerade auch sexuellen – Konnotatio­nen aufgeladen waren. Obwohl sich die Konnotatio­nen heute ebenso verändert haben wie die (staats-)rechtliche­n Verhältnis­se der Regionen, bekämpfen sie sich mehr denn je und (miss-)verstehen sich im selben Maß. (Homo-)Sexualität spielt darin auch heute noch eine entscheide­nde Rolle. Angesichts der vexierhaft­en Verhaltens­weise seines indischen Geliebten, Masood, stellte sich Forster bei allem Unverständ­nis, in all seiner Sehnsucht zu verstehen, immer wieder dieselbe Frage: „Is the enigma him oder his nationalit­y?“Eine übergreife­nde Frage, die sich jeder stellt, der in Ländern lebt, deren Fremdheit ihn ebenso anzieht wie abstößt.

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