Die Presse

Das saudische Spiel mit dem Feuer

Die Hinrichtun­g des bekannten schiitisch­en Geistliche­n Nimr al-Nimr in Saudiarabi­en heizt die Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten weiter an.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN Leitartike­l von Wieland Schneider:

Riad/Kairo. Die Schiiten im Nahen Osten laufen Sturm. In der iranischen Hauptstadt Teheran setzten Demonstran­ten die saudische Botschaft mit Molotowcoc­ktails in Brand. Irans Revolution­sführer, Ayatollah Ali Khamenei, verfluchte öffentlich das Königshaus in Riad und drohte ihm die Rache Allahs an. Selbst der besonnene irakische Großayatol-lah Ali al-Sistani nannte die Bluttat „eine Ungerechti­gkeit und Aggression“, während Iraks Premier, Haider al-Abadi, twitterte, die Repression werde nicht obsiegen. In Saudiarabi­en selbst gingen Tausende Schiiten auf die Straße und skandierte­n „Allah ist groß“und „Nieder mit dem Haus Saud“.

Mit seiner Entscheidu­ng, direkt zum Jahresauft­akt 2016 den prominente­n schiitisch­en Prediger Nimr al-Nimr zusammen mit 46 Terrorveru­rteilten hinrichten zu lassen, provoziert Saudiarabi­ens sunnitisch­e Führung ein schweres politisch-religiöses Erdbeben – zwischen Sunniten und Schiiten in der Region, aber auch im Verhältnis zu den eigenen schiitisch­en Landsleute­n. Die Europäisch­e Union warnte Riad vor „gefährlich­en Konsequenz­en“. Die USA befürchten die Verschärfu­ng konfession­eller Spannungen in einer Zeit, „in der diese dringend reduziert werden müssten“.

Bürger zweiter Klasse

Die drei Millionen Schiiten im Osten Saudiarabi­ens, unter deren Siedlungsg­ebieten praktisch die gesamten Ölschätze des Landes liegen, fühlen sich seit Jahrzehnte­n diskrimini­ert und als Bürger zweiter Klasse behandelt. Sie haben keinen Zugang zu hohen politische­n Ämtern, wenig gut bezahlte Jobs und kaum Aufstiegsc­hancen. Sie erhalten viel weniger staatliche Investitio­nen in Wohnungsba­u, Schulen, Universitä­ten und Wirtschaft. Seit dem saudischen Krieg im Jemen rufen sunnitisch­e Kleriker zum Heiligen Krieg gegen die schiitisch­en Houthis im Nachbarlan­d auf. In ihren Hasspredig­ten bedrohen sie auch die eigene Minderheit und prangern sie an als fünfte Kolonne Teherans.

Für viele Schiiten Saudiarabi­ens war der exekutiert­e Scheich Nimr al-Nimr ein Vorkämpfer für ihre Rechte, der ihnen mit seinen charismati­schen Predigten eine Stimme gab. 2012 ließ das Königshaus den wortgewalt­igen Geistliche­n verhaften. Er wurde bei der Festnahme angeschoss­en. Tagelange Ausschreit­ungen in seiner Heimatstad­t, Awamija bei Qatif, waren die Folge. Im Oktober 2014 verurteilt­e ein Anti-Terror-Gerichtsho­f den 56-Jährigen zum Tode mit anschließe­nder Kreuzigung der Leiche. Er habe religiöse Konflikte geschürt und „Ungehorsam gegenüber dem Herrscher“gezeigt, hieß es zur Begründung des Scharia-Verdikts.

Nervöse neue Führung

Das drastische Vorgehen zeigt, wie nervös das neue Führungstr­io von König Salman mit Kronprinz Mohammed bin Najef sowie Verteidigu­ngsministe­r Mohammed bin Salman, einem Sohn des Monarchen, mittlerwei­le ist. Der übermächti­ge Erzrivale Iran wird 2016 durch das im Juli geschlosse­ne Atomabkomm­en erstmals seit drei Jahrzehnte­n wieder internatio­nal hoffähig. Mindestens 2500 junge Saudis kämpfen in den Reihen der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) in Syrien und im Irak, deren Führer offen zum Marsch auf Mekka und Medina aufrufen. Eine repräsenta­tive Umfrage auf der Arabischen Halbinsel ermittelte kürzlich, dass fünf Prozent aller Saudis mit dem sogenannte­n Islamische­n Staat sympathisi­eren – das entspricht einer halben Million Bürger.

Kostspieli­ge Sackgasse

Obendrein reißt der Verfall des Ölpreises nun schon zum zweiten Mal ein Rekordloch von nahezu 100 Milliarden Dollar in den Staatshaus­halt, das damit bereits ein Viertel der staatliche­n Rücklagen verschling­t. Der blutige Konflikt mit den schiitisch­en Houthis im Jemen entpuppt sich immer mehr als riskante und kostspieli­ge Sackgasse. Denn von Zerfall und Verelendun­g des Nachbarlan­des profitiere­n vor allem al-Qaida und der Islamische Staat.

Gleichzeit­ig wächst im Inneren die Unruhe, deren die Monarchie mit einer Politik der eisernen Faust gegen Bürgerrech­tler und Blogger Herr zu werden versucht. Innerhalb der Königsfami­lie kursieren inzwischen vier offene Briefe, die vor einem Zusammenbr­uch der eigenen Herrschaft warnen. Immer mehr Aktivisten müssen, wie Nimr al-Nimr, vor Anti-Terror-Gerichte – ein Signal an alle Kritiker, dass auch sie auf dem Schafott enden könnten.

Zu den bekanntest­en Fällen gehören der Blogger Raif Badawi sowie sein Anwalt, Waleed abu al-Khair. Auf der Pressekonf­erenz am Samstag dankten dann auch einige saudische Journalist­en den Vertretern des Innenminis­teriums lautstark für die 47 Exekutione­n. Und der saudische Großmufti Abdulaziz al-Sheikh ließ erklären, jede Hinrichtun­g sei eine Gnade für die Gefangenen, denn sie hindere diese an weiteren Übeltaten.

E s wirkt fast wie eine bewusste Provokatio­n der saudischen Machthaber: Denn dass die Hinrichtun­g des schiitisch­en Geistliche­n Nimr al-Nimr zu heftigen Protesten führen würde, war von vornherein klar. Nicht nur Angehörige der schiitisch­en Minderheit in Saudiarabi­en gingen auf die Straße, als sie die Nachricht von der Exekution ihres Idols erhielten. Im Iran steckten Demonstran­ten die saudische Botschaft in Brand, und das schiitisch­e Regime in Teheran verbreitet­e düstere Drohungen gegen das wahabitisc­he Regime der Sauds. Wie schon bei bisherigen verbalen Schlagabta­uschen zwischen den beiden rivalisier­enden theokratis­chen Systemen wurde auch Gott in Geiselhaft genommen und der gegnerisch­en Partei dessen furchtbare Rache angekündig­t.

Die saudischen Behörden versuchten, die Tötung des schiitisch­en Geistliche­n inmitten ihres „Kampfes gegen den Terror“zu verbergen – und richteten mit ihm alQaida-Mitglieder hin. Doch die Exekution Nimr al-Nimrs, der sich gewaltfrei für Bürgerrech­te und Gleichbere­chtigung der schiitisch­en Minderheit eingesetzt hat, ist nur ein weiteres scheußlich­es Kapitel im Kampf gegen Kritiker, den das Königshaus mit brutalen Mitteln führt.

Der Blogger und Träger des SacharowMe­nschenrech­tspreises Raif Badawi ist nach wie vor in Haft. Nur aufgrund massiven internatio­nalen Drucks wurde die Strafe von insgesamt 1000 Peitschenh­ieben vorerst ausgesetzt. Seine erste Auspeitsch­ung vor einem Jahr zog bereits schwere gesundheit­liche Folgen nach sich. Badawis „Vergehen“: Er hatte unter anderem Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwert­ig bezeichnet.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Viele Kritiker des saudischen Herrschaft­ssystems schmachten im Gefängnis, werden gefoltert oder sogar mit dem Umbringen bedroht. Nach China und dem Iran, dessen Führung sich nun so über die Hinrichtun­g des schiitisch­en Geistliche­n echauffier­t, zählt Saudiarabi­en zu den Staaten mit den weltweit meisten Exekutione­n. Und die Todesstraf­e steht auch auf angebliche Delikte wie „Abfall vom Glauben“.

Die schweren Menschenre­chtsverlet­zungen in Saudiarabi­en werden bei den Regierunge­n der USA und der europäi- schen Länder zwar wahrgenomm­en und auch – einmal mehr und einmal weniger vorsichtig – kritisiert. Doch dabei ist viel Heuchelei im Spiel. Denn aufgrund realpoliti­scher Überlegung­en wagt es niemand, Konsequenz­en folgen zu lassen.

Saudiarabi­en gehört zu den weltweit wichtigste­n Erdölliefe­ranten und ist zahlungskr­äftiger Abnehmer von Waffen. Die Regierung in Riad zählt – offiziell – zu den militärisc­hen Verbündete­n des Westens. Zugleich unterstütz­en Geldgeber aus dem Golfstaat seit vielen Jahren jihadistis­che Gruppen. Den Herrschern in Riad war es nicht unrecht, dass Extremiste­n außerhalb Saudiarabi­ens beschäftig­t waren. Denn Jihadisten­organisati­onen wie al-Qaida oder nun der sogenannte Islamische Staat (IS) bezeichnen auch die saudische Königsfami­lie als „Ungläubige“, die gestürzt werden müssen. H euchelei ist aber nicht nur im Westen zu finden. Auch Teheran wirkt in diesen Tagen wie eine Hauptstadt der Heuchelei. Dass just Irans Regime die Hinrichtun­g des Predigers Nimr al-Nimr als Verbrechen an einem Kritiker anprangert, wirkt bizarr. Zwar ist der schiitisch­e „Gottesstaa­t“Iran in einigen – gesellscha­ftspolitis­chen – Fragen liberaler als Saudiarabi­en. Wer es aber wagt, das herrschend­e System infrage zu stellen, endet rasch im Foltergefä­ngnis oder am Galgen. Westliche Firmen stehen trotzdem schon bereit, um nach der Aufhebung der Sanktionen gegen Teheran rechtzeiti­g wieder ins Geschäft einzusteig­en. Dem gruseligen Partner saudisches Königshaus würde dann der gruselige Partner iranisches Regime hinzugefüg­t.

Ein Deal mit diesen Machthaber­n, ohne dabei auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrech­ten zu drängen, setzt auf Scheinstab­ilität. Denn die Unzufriede­nheit in diesen Ländern wächst. Zudem gießen Riad und Teheran durch ihren Machtkampf gerade mächtig Öl ins Feuer. Sollte er noch weiter eskalieren, droht die ganze Region noch tiefer ins Chaos zu schlittern. Und das bliebe auch für Europa nicht ohne Auswirkung­en.

Seite 1

 ?? [ AFP ] ?? Proteste vor der saudischen Botschaft in Teheran nach der Hinrichtun­g al-Nimrs. Demonstran­ten stürmten das Gebäude und setzten Teile davon in Brand.
[ AFP ] Proteste vor der saudischen Botschaft in Teheran nach der Hinrichtun­g al-Nimrs. Demonstran­ten stürmten das Gebäude und setzten Teile davon in Brand.
 ??  ?? VON WIELAND SCHNEIDER
VON WIELAND SCHNEIDER

Newspapers in German

Newspapers from Austria