Das saudische Spiel mit dem Feuer
Die Hinrichtung des bekannten schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr in Saudiarabien heizt die Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten weiter an.
Riad/Kairo. Die Schiiten im Nahen Osten laufen Sturm. In der iranischen Hauptstadt Teheran setzten Demonstranten die saudische Botschaft mit Molotowcocktails in Brand. Irans Revolutionsführer, Ayatollah Ali Khamenei, verfluchte öffentlich das Königshaus in Riad und drohte ihm die Rache Allahs an. Selbst der besonnene irakische Großayatol-lah Ali al-Sistani nannte die Bluttat „eine Ungerechtigkeit und Aggression“, während Iraks Premier, Haider al-Abadi, twitterte, die Repression werde nicht obsiegen. In Saudiarabien selbst gingen Tausende Schiiten auf die Straße und skandierten „Allah ist groß“und „Nieder mit dem Haus Saud“.
Mit seiner Entscheidung, direkt zum Jahresauftakt 2016 den prominenten schiitischen Prediger Nimr al-Nimr zusammen mit 46 Terrorverurteilten hinrichten zu lassen, provoziert Saudiarabiens sunnitische Führung ein schweres politisch-religiöses Erdbeben – zwischen Sunniten und Schiiten in der Region, aber auch im Verhältnis zu den eigenen schiitischen Landsleuten. Die Europäische Union warnte Riad vor „gefährlichen Konsequenzen“. Die USA befürchten die Verschärfung konfessioneller Spannungen in einer Zeit, „in der diese dringend reduziert werden müssten“.
Bürger zweiter Klasse
Die drei Millionen Schiiten im Osten Saudiarabiens, unter deren Siedlungsgebieten praktisch die gesamten Ölschätze des Landes liegen, fühlen sich seit Jahrzehnten diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse behandelt. Sie haben keinen Zugang zu hohen politischen Ämtern, wenig gut bezahlte Jobs und kaum Aufstiegschancen. Sie erhalten viel weniger staatliche Investitionen in Wohnungsbau, Schulen, Universitäten und Wirtschaft. Seit dem saudischen Krieg im Jemen rufen sunnitische Kleriker zum Heiligen Krieg gegen die schiitischen Houthis im Nachbarland auf. In ihren Hasspredigten bedrohen sie auch die eigene Minderheit und prangern sie an als fünfte Kolonne Teherans.
Für viele Schiiten Saudiarabiens war der exekutierte Scheich Nimr al-Nimr ein Vorkämpfer für ihre Rechte, der ihnen mit seinen charismatischen Predigten eine Stimme gab. 2012 ließ das Königshaus den wortgewaltigen Geistlichen verhaften. Er wurde bei der Festnahme angeschossen. Tagelange Ausschreitungen in seiner Heimatstadt, Awamija bei Qatif, waren die Folge. Im Oktober 2014 verurteilte ein Anti-Terror-Gerichtshof den 56-Jährigen zum Tode mit anschließender Kreuzigung der Leiche. Er habe religiöse Konflikte geschürt und „Ungehorsam gegenüber dem Herrscher“gezeigt, hieß es zur Begründung des Scharia-Verdikts.
Nervöse neue Führung
Das drastische Vorgehen zeigt, wie nervös das neue Führungstrio von König Salman mit Kronprinz Mohammed bin Najef sowie Verteidigungsminister Mohammed bin Salman, einem Sohn des Monarchen, mittlerweile ist. Der übermächtige Erzrivale Iran wird 2016 durch das im Juli geschlossene Atomabkommen erstmals seit drei Jahrzehnten wieder international hoffähig. Mindestens 2500 junge Saudis kämpfen in den Reihen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak, deren Führer offen zum Marsch auf Mekka und Medina aufrufen. Eine repräsentative Umfrage auf der Arabischen Halbinsel ermittelte kürzlich, dass fünf Prozent aller Saudis mit dem sogenannten Islamischen Staat sympathisieren – das entspricht einer halben Million Bürger.
Kostspielige Sackgasse
Obendrein reißt der Verfall des Ölpreises nun schon zum zweiten Mal ein Rekordloch von nahezu 100 Milliarden Dollar in den Staatshaushalt, das damit bereits ein Viertel der staatlichen Rücklagen verschlingt. Der blutige Konflikt mit den schiitischen Houthis im Jemen entpuppt sich immer mehr als riskante und kostspielige Sackgasse. Denn von Zerfall und Verelendung des Nachbarlandes profitieren vor allem al-Qaida und der Islamische Staat.
Gleichzeitig wächst im Inneren die Unruhe, deren die Monarchie mit einer Politik der eisernen Faust gegen Bürgerrechtler und Blogger Herr zu werden versucht. Innerhalb der Königsfamilie kursieren inzwischen vier offene Briefe, die vor einem Zusammenbruch der eigenen Herrschaft warnen. Immer mehr Aktivisten müssen, wie Nimr al-Nimr, vor Anti-Terror-Gerichte – ein Signal an alle Kritiker, dass auch sie auf dem Schafott enden könnten.
Zu den bekanntesten Fällen gehören der Blogger Raif Badawi sowie sein Anwalt, Waleed abu al-Khair. Auf der Pressekonferenz am Samstag dankten dann auch einige saudische Journalisten den Vertretern des Innenministeriums lautstark für die 47 Exekutionen. Und der saudische Großmufti Abdulaziz al-Sheikh ließ erklären, jede Hinrichtung sei eine Gnade für die Gefangenen, denn sie hindere diese an weiteren Übeltaten.
E s wirkt fast wie eine bewusste Provokation der saudischen Machthaber: Denn dass die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr zu heftigen Protesten führen würde, war von vornherein klar. Nicht nur Angehörige der schiitischen Minderheit in Saudiarabien gingen auf die Straße, als sie die Nachricht von der Exekution ihres Idols erhielten. Im Iran steckten Demonstranten die saudische Botschaft in Brand, und das schiitische Regime in Teheran verbreitete düstere Drohungen gegen das wahabitische Regime der Sauds. Wie schon bei bisherigen verbalen Schlagabtauschen zwischen den beiden rivalisierenden theokratischen Systemen wurde auch Gott in Geiselhaft genommen und der gegnerischen Partei dessen furchtbare Rache angekündigt.
Die saudischen Behörden versuchten, die Tötung des schiitischen Geistlichen inmitten ihres „Kampfes gegen den Terror“zu verbergen – und richteten mit ihm alQaida-Mitglieder hin. Doch die Exekution Nimr al-Nimrs, der sich gewaltfrei für Bürgerrechte und Gleichberechtigung der schiitischen Minderheit eingesetzt hat, ist nur ein weiteres scheußliches Kapitel im Kampf gegen Kritiker, den das Königshaus mit brutalen Mitteln führt.
Der Blogger und Träger des SacharowMenschenrechtspreises Raif Badawi ist nach wie vor in Haft. Nur aufgrund massiven internationalen Drucks wurde die Strafe von insgesamt 1000 Peitschenhieben vorerst ausgesetzt. Seine erste Auspeitschung vor einem Jahr zog bereits schwere gesundheitliche Folgen nach sich. Badawis „Vergehen“: Er hatte unter anderem Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig bezeichnet.
Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Viele Kritiker des saudischen Herrschaftssystems schmachten im Gefängnis, werden gefoltert oder sogar mit dem Umbringen bedroht. Nach China und dem Iran, dessen Führung sich nun so über die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen echauffiert, zählt Saudiarabien zu den Staaten mit den weltweit meisten Exekutionen. Und die Todesstrafe steht auch auf angebliche Delikte wie „Abfall vom Glauben“.
Die schweren Menschenrechtsverletzungen in Saudiarabien werden bei den Regierungen der USA und der europäi- schen Länder zwar wahrgenommen und auch – einmal mehr und einmal weniger vorsichtig – kritisiert. Doch dabei ist viel Heuchelei im Spiel. Denn aufgrund realpolitischer Überlegungen wagt es niemand, Konsequenzen folgen zu lassen.
Saudiarabien gehört zu den weltweit wichtigsten Erdöllieferanten und ist zahlungskräftiger Abnehmer von Waffen. Die Regierung in Riad zählt – offiziell – zu den militärischen Verbündeten des Westens. Zugleich unterstützen Geldgeber aus dem Golfstaat seit vielen Jahren jihadistische Gruppen. Den Herrschern in Riad war es nicht unrecht, dass Extremisten außerhalb Saudiarabiens beschäftigt waren. Denn Jihadistenorganisationen wie al-Qaida oder nun der sogenannte Islamische Staat (IS) bezeichnen auch die saudische Königsfamilie als „Ungläubige“, die gestürzt werden müssen. H euchelei ist aber nicht nur im Westen zu finden. Auch Teheran wirkt in diesen Tagen wie eine Hauptstadt der Heuchelei. Dass just Irans Regime die Hinrichtung des Predigers Nimr al-Nimr als Verbrechen an einem Kritiker anprangert, wirkt bizarr. Zwar ist der schiitische „Gottesstaat“Iran in einigen – gesellschaftspolitischen – Fragen liberaler als Saudiarabien. Wer es aber wagt, das herrschende System infrage zu stellen, endet rasch im Foltergefängnis oder am Galgen. Westliche Firmen stehen trotzdem schon bereit, um nach der Aufhebung der Sanktionen gegen Teheran rechtzeitig wieder ins Geschäft einzusteigen. Dem gruseligen Partner saudisches Königshaus würde dann der gruselige Partner iranisches Regime hinzugefügt.
Ein Deal mit diesen Machthabern, ohne dabei auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten zu drängen, setzt auf Scheinstabilität. Denn die Unzufriedenheit in diesen Ländern wächst. Zudem gießen Riad und Teheran durch ihren Machtkampf gerade mächtig Öl ins Feuer. Sollte er noch weiter eskalieren, droht die ganze Region noch tiefer ins Chaos zu schlittern. Und das bliebe auch für Europa nicht ohne Auswirkungen.
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