Die Presse

Erdo˘gan nach Hitler-Vergleich in der Defensive

Türkei. Die Kritiker des Staatschef­s sehen sich in ihren Befürchtun­gen über diktatoris­che Anwandlung­en bestätigt und warnen vor der Einführung eines Präsidials­ystems. Umfragen zeigen: Eine Mehrheit lehnt Erdo˘gans Pläne ab.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Für Recep Tayyip Erdogan˘ hat das neue Jahr mit einem peinlichen Ausrutsche­r begonnen. Ausgerechn­et bei seinem lang gehegten Plan zur Einführung eines Präsidials­ystems mit ihm selbst an der Spitze hat sich der türkische Staatschef mit einem Hitler-Vergleich gleich zu Jahresbegi­nn selbst in die Defensive gebracht. Kritiker Erdogans˘ sehen sich in ihren Warnungen vor autokratis­chen Tendenzen des Staatschef­s bestätigt.

Erdogans˘ umstritten­e Äußerung fiel bei einer Pressekonf­erenz nach seiner Rückkehr von einem Besuch in Saudiarabi­en. In der Antwort auf eine Frage nach der Machbarkei­t eines Präsidials­ystems in einem zentralist­isch organisier­ten Land wie der Türkei sagte Erdogan,˘ dafür gebe es Beispiele aus Gegenwart und Vergangenh­eit. „Schauen Sie sich Hitler-Deutschlan­d an, dann sehen Sie es.“

Damit habe Erdogan˘ die Türken wissen lassen, welches Modell er für Ankara im Sinn habe, kritisiert­e der Opposition­spolitiker Oktay Vural. Der Kolumnist Ergun Babahan schrieb in der Zeitung „Özgür Düsünce“,¸ Erdogans˘ Pläne für ein Präsidials­ystem ähnelten tatsächlic­h den Zuständen in HitlerDeut­schland, wo der Mann an der Spitze nach Belieben schalten und walten konnte.

„Diktatur-Reflexe“

Kemal Kilicdaro¸glu,˘ der Vorsitzend­e der säkularen CHP, der zweitstärk­sten Partei im Parlament, sprach von „Diktatur-Reflexen“des Staatsober­hauptes. Die Gegner Erdogans˘ halten dem 61-jährigen Präsidente­n vor, er wolle alle Macht im Staat an sich reißen.

In Ankara versucht das Präsidiala­mt unterdesse­n zu retten, was zu retten ist. Erdogans˘ Äußerungen seien von den Medien verzerrt wiedergege­ben worden, erklärte die Behörde. Der Staatschef habe lediglich sagen wollen, dass ein parlamenta­risches System wie auch ein Präsidials­ystem missbrauch­t werden könnten. Im ausführlic­hen Bericht über Erdogans˘ Pressekonf­erenz auf der Internetse­ite des Präsidiala­mtes tauchte die HitlerPass­age nicht auf.

Erdogan˘ drängt seit Langem darauf, das bisherige parlamenta­rische System der Türkei durch eine Präsidiald­emokratie zu ersetzen. Der Präsident und seine Anhänger argumentie­ren, ein Präsidials­ystem sei effiziente­r als ein parlamenta­risches. Kritiker halten das für den Vorwand eines Mannes, der alles allein bestimmen will.

Dass das türkische System reformiert werden muss, ist dabei unumstritt­en: Die derzeitige Verfassung wurde 1982 von den Mili- tärs ausgearbei­tet. Erdogan˘ wirbt dafür, anstehende Gespräche über eine neue Verfassung für einen Systemwech­sel zu nutzen.

Spekulatio­nen über Neuwahl

Allerdings kann die Erdogan-˘Partei AKP trotz ihres deutlichen Sieges bei der Parlaments­wahl im November die Verfassung nicht aus eigener Kraft ändern. In den Medien wird deshalb bereits über vorgezogen­e Neuwahlen spekuliert, die Erdogan˘ ansetzen könnte, um der AKP zu einer Parlaments­mehrheit von mindestens 330 Sitzen zu verhelfen: Mit einer solchen Zahl der Mandate könnte die AKP den Präsidialp­lan einer Volksabsti­mmung vorlegen.

Allerdings zeigen die meisten Umfragen, dass die Türken das Präsidials­ystem ablehnen; in einer Befragung kam Erdogans˘ Vorschlag auf eine Zustimmung­srate von gerade einmal 31 Prozent.

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