Die Presse

Mit Koffertrag­en zum Neuanfang

Obdachlose. Auf dem Bahnhof Bratislava helfen Menschen ohne festen Wohnsitz den Reisenden mit dem Gepäck – und durchbrech­en so ihren persönlich­en Teufelskre­is.

- Von unserem Korrespond­enten CHRISTOPH THANEI

Bratislava. Wer an Obdachlose auf dem Bahnhof denkt, verknüpft damit meist die Vorstellun­g von verwahrlos­t wirkenden Menschen, die Passanten um Kleingeld oder Zigaretten anbetteln. Nicht so auf dem Hauptbahnh­of der slowakisch­en Hauptstadt Bratislava (Pressburg): Hier bieten Menschen ohne festes Zuhause den Reisenden kostenlos ihre Dienste an – als Gepäckträg­er. Seit einem Jahr nun gibt es dieses Projekt, das Obdachlose­n eine neue Perspektiv­e eröffnen soll. Im Gespräch mit der „Presse“verweisen die Initiatore­n stolz auf die erste internatio­nale Auszeichnu­ng, mit der sie bedacht wurden: In Österreich erhielten sie 2015 die Sozialmari­e für vorbildlic­he Sozialproj­ekte. „Unsere Dienstleis­tung ist jetzt schon so bekannt, dass uns immer mehr Reisende von sich aus ansprechen, bevor wir sie fragen, ob sie Hilfe brauchen“, erzählt Laco, einer der Träger, die von Anfang an dabei waren. Es gebe sogar schon „Stammkunde­n“, die gezielt „ihren“bevorzugte­n Träger ansprechen.

Während sich Laco einem älteren Herrn zuwendet, der verzweifel­t den richtigen Bahnsteig nach Trnava sucht, erzählt sein Kollege Jozef Simek:ˇ „Es sind vor allem ältere Menschen, aber auch Mütter mit Kinderwage­n, die unsere Dienste in Anspruch nehmen – jüngere Männer kaum.“Aus dem Menschenge­wühl stechen die Gepäckträg­er dank ihrer Uniformen hervor: Einen an Zeiten der österreich­isch-ungarische­n Monarchie erinnernde­n, tiefblauen Mantel zieren weinrote Streifen mit goldfarben­en Knöpfen, dazu gehören eine steife Dienstmütz­e und weiße Handschuhe. Zu den Grundvorau­ssetzungen zählen neben der in „Eingangste­sts“erhobenen körperlich­en und gesundheit­lichen Eignung auch ein ausreichen­d gepflegtes Äußeres und korrekte Umgangsfor­men.

Bezahlt werden die Helfer im Rahmen des Sozialproj­ekts Nota Bene Gepäckträg­er. Ins Leben gerufen wurde es von der Sozialinit­iative Proti pru´du (Gegen den Strom), die in Bratislava schon seit Jahren die mit dem österreich­ischen „Augustin“vergleichb­are Obdachlose­nzeitung „Nota bene“vertreibt. Auch wer als Gepäckträg­er von Montag bis Freitag jeweils von 9 bis 13 Uhr arbeitet, verdient nachmittag­s weiterhin sein Geld mit dem Verkauf der Zeitung.

In der Schuldenfa­lle

„Unsere Gesetze machen es Menschen ohne festen Wohnsitz schwer, eine legale Arbeit zu finden“, sagt Projektkoo­rdinator Peter Kadlecik.ˇ Besonders bitter sei für viele Betroffene, dass die Inanspruch­nahme von Sozial- und Gesundheit­sleistunge­n de facto oft am Fehlen einer festen Adresse scheitere, anderersei­ts aber auch für diese Menschen Beitragspf­licht bestehe. So häuften sie über Jahre ohne entspreche­nde Gegenleist­ung Krankenver­sicherungs­schulden an, die sich aufgrund von Mahngebühr­en rasch vervielfac­hen. „Wer sich entscheide­t, mit uns einen Neuanfang zu machen, erhält deshalb auch eine kostenlose Schuldnerb­eratung, um aus dem Teufelskre­is aus Verlust von Wohnung, Arbeit und Zukunftspe­rspektive herauszuko­mmen“, erklärt Kadlecik.ˇ

Begonnen hat das Projekt zunächst mit zehn Männern. Dass jetzt nur mehr sechs dabei sind (davon ein späterer Neueinstei­ger), ist für Kadlecikˇ kein Misserfolg: „Ganz im Gegenteil: Denn die meisten anderen sind deshalb ausgestieg­en, weil sie dank dieser Starthilfe die Möglichkei­t hatten, eine bessere Arbeit zu finden.“

Win-win-Situation

Zu den Projektunt­erstützern der ersten Stunde gehört auch Bahnhofsvo­rstand Pavol Orszagh von der staatliche­n Eisenbahng­esellschaf­t: „Weil es keinen Lift gibt und die Gänge für das häufige Gedränge zu eng sind, haben es Menschen mit schwerem Gepäck und körperlich­en Gebrechen bei uns schwer, zu den Bahnsteige­n zu kommen“, beschreibt er seine Beweggründ­e für das Projekt. Die Träger leisteten deshalb „einen wertvollen Dienst“– nicht nur sich selbst, sondern auch den Reisenden.

 ?? [ Ch. Thanei ] ?? Uniformier­te Hilfe: Die Gepäckträg­er müssen gepflegt aussehen und Umgangsfor­men beherrsche­n.
[ Ch. Thanei ] Uniformier­te Hilfe: Die Gepäckträg­er müssen gepflegt aussehen und Umgangsfor­men beherrsche­n.

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