Mit Koffertragen zum Neuanfang
Obdachlose. Auf dem Bahnhof Bratislava helfen Menschen ohne festen Wohnsitz den Reisenden mit dem Gepäck – und durchbrechen so ihren persönlichen Teufelskreis.
Bratislava. Wer an Obdachlose auf dem Bahnhof denkt, verknüpft damit meist die Vorstellung von verwahrlost wirkenden Menschen, die Passanten um Kleingeld oder Zigaretten anbetteln. Nicht so auf dem Hauptbahnhof der slowakischen Hauptstadt Bratislava (Pressburg): Hier bieten Menschen ohne festes Zuhause den Reisenden kostenlos ihre Dienste an – als Gepäckträger. Seit einem Jahr nun gibt es dieses Projekt, das Obdachlosen eine neue Perspektive eröffnen soll. Im Gespräch mit der „Presse“verweisen die Initiatoren stolz auf die erste internationale Auszeichnung, mit der sie bedacht wurden: In Österreich erhielten sie 2015 die Sozialmarie für vorbildliche Sozialprojekte. „Unsere Dienstleistung ist jetzt schon so bekannt, dass uns immer mehr Reisende von sich aus ansprechen, bevor wir sie fragen, ob sie Hilfe brauchen“, erzählt Laco, einer der Träger, die von Anfang an dabei waren. Es gebe sogar schon „Stammkunden“, die gezielt „ihren“bevorzugten Träger ansprechen.
Während sich Laco einem älteren Herrn zuwendet, der verzweifelt den richtigen Bahnsteig nach Trnava sucht, erzählt sein Kollege Jozef Simek:ˇ „Es sind vor allem ältere Menschen, aber auch Mütter mit Kinderwagen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen – jüngere Männer kaum.“Aus dem Menschengewühl stechen die Gepäckträger dank ihrer Uniformen hervor: Einen an Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie erinnernden, tiefblauen Mantel zieren weinrote Streifen mit goldfarbenen Knöpfen, dazu gehören eine steife Dienstmütze und weiße Handschuhe. Zu den Grundvoraussetzungen zählen neben der in „Eingangstests“erhobenen körperlichen und gesundheitlichen Eignung auch ein ausreichend gepflegtes Äußeres und korrekte Umgangsformen.
Bezahlt werden die Helfer im Rahmen des Sozialprojekts Nota Bene Gepäckträger. Ins Leben gerufen wurde es von der Sozialinitiative Proti pru´du (Gegen den Strom), die in Bratislava schon seit Jahren die mit dem österreichischen „Augustin“vergleichbare Obdachlosenzeitung „Nota bene“vertreibt. Auch wer als Gepäckträger von Montag bis Freitag jeweils von 9 bis 13 Uhr arbeitet, verdient nachmittags weiterhin sein Geld mit dem Verkauf der Zeitung.
In der Schuldenfalle
„Unsere Gesetze machen es Menschen ohne festen Wohnsitz schwer, eine legale Arbeit zu finden“, sagt Projektkoordinator Peter Kadlecik.ˇ Besonders bitter sei für viele Betroffene, dass die Inanspruchnahme von Sozial- und Gesundheitsleistungen de facto oft am Fehlen einer festen Adresse scheitere, andererseits aber auch für diese Menschen Beitragspflicht bestehe. So häuften sie über Jahre ohne entsprechende Gegenleistung Krankenversicherungsschulden an, die sich aufgrund von Mahngebühren rasch vervielfachen. „Wer sich entscheidet, mit uns einen Neuanfang zu machen, erhält deshalb auch eine kostenlose Schuldnerberatung, um aus dem Teufelskreis aus Verlust von Wohnung, Arbeit und Zukunftsperspektive herauszukommen“, erklärt Kadlecik.ˇ
Begonnen hat das Projekt zunächst mit zehn Männern. Dass jetzt nur mehr sechs dabei sind (davon ein späterer Neueinsteiger), ist für Kadlecikˇ kein Misserfolg: „Ganz im Gegenteil: Denn die meisten anderen sind deshalb ausgestiegen, weil sie dank dieser Starthilfe die Möglichkeit hatten, eine bessere Arbeit zu finden.“
Win-win-Situation
Zu den Projektunterstützern der ersten Stunde gehört auch Bahnhofsvorstand Pavol Orszagh von der staatlichen Eisenbahngesellschaft: „Weil es keinen Lift gibt und die Gänge für das häufige Gedränge zu eng sind, haben es Menschen mit schwerem Gepäck und körperlichen Gebrechen bei uns schwer, zu den Bahnsteigen zu kommen“, beschreibt er seine Beweggründe für das Projekt. Die Träger leisteten deshalb „einen wertvollen Dienst“– nicht nur sich selbst, sondern auch den Reisenden.