Auf die Datscha statt ins Ausland
Russland. 2015 brachte für Russlands Tourismusindustrie extrem harte Zeiten. Lieblingsziele der Russen im Ausland sind blockiert, Urlaubsorte im Inland unterentwickelt.
Wien. Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht. Und weil die Russen seit Jahrzehnten mit den Absurditäten des Alltags konfrontiert sind, haben sie das Lachen zum Dauerbegleiter gemacht.
So auch in Sachen Auslandsreisen, die angesichts der Rezession und der politischen Verwerfungen mit Lieblingsdestinationen wie der Türkei nun dezimiert worden sind. „Warum wir nicht mehr an die türkischen Strände fliegen, wo ,all inclusive‘ ist?“, fragen sie in einem aktuellen Witz: „Weil wir auf unsere Krim fahren, wo ,all exclusive‘ ist.“
Was witzig klingen soll, ist in Wahrheit teils sogar Programm des Kreml. Patriotismus ist angesagt, seit sich die russische Führung wegen der Annexion der Krim mit dem Westen überworfen hat. Und seit Russland in Syrien militärisch interveniert, sind auch die bisher wichtigsten Reiseziele, Ägypten und die Türkei, tabu. Im Falle Ägyptens hat das mit dem mutmaßlichen Terroranschlag auf ein russisches Flugzeug im November zu tun. Im Falle der Türkei ist es die Revanche für den Abschuss eines russischen Kampfjets durch Ankara fast zur gleichen Zeit. Seit einem Monat sind Reiseveranstalter daher angehalten, keine Touren mehr in die Türkei zu verkaufen. Und auch Flüge nach Ägypten bleiben untersagt. Mindestens sechs Millionen Russen hatten zuvor beide Länder pro Jahr besucht.
Auch wenn der jetzige Rückgang noch nicht in die Statistiken eingeflossen ist, bleibt festzuhalten: 2015 wurde zum schwärzesten Jahr des russischen Tourismus. Schon in den ersten neun Monaten nämlich war die Anzahl der Auslandsreisen um 31,4 Prozent auf knapp zehn Millionen eingebrochen – der stärkste Rückgang seit 15 Jahren. Auch Österreich verzeichnet für die ersten zehn Monate ein Minus von 33 Prozent.
Zum Verbot kommt der Geldmangel
Dabei war der russische Gast aufgrund seiner notorisch hohen Tagesausgaben überall gern gesehen. Dass er jetzt immer mehr ausbleibt, liegt freilich nicht nur an den Reiseverboten. Es liegt auch an den wirtschaftlichen Bedingungen, die den Russen ihr geliebtes Reisen, das sie ohnehin erst seit dem Boom der Nullerjahre erstmals richtig praktizieren konnten, zunehmend vergällen.
Vor allem der drastische Verfall des Rubels seit Mitte 2014 hat Auslandsreisen extrem verteuert. Dazu kommt, dass die tiefe Rezession, in der das Land 2015 steckte und die 2016 bestenfalls in eine Stagnation münden wird, die finanzielle Sorglosigkeit weggespült hat: Die Reallöhne gingen im Vorjahr um ein Zehntel zurück. Die Lebensmittelpreise explodierten infolge des Importembargos auf westliche Agrarprodukte. Laut Meinungsforschungsinstitut Levada-Centre hat sich der Anteil der Russen, die einerseits beim Essen und andererseits bei Waren des langfristigen Bedarfs sparen müssen, binnen eines Jahres von 37 auf 58 Prozent erhöht.
Wer nicht beim Essen sparen muss, spart eben beim Reisen ins Ausland. Gewiss, genau genommen trifft dies nur ein Viertel der Bevölkerung. Wie nämlich Levada-Centre eruierte, haben in den vergangenen fünf Jahren nur 23 Prozent der Russen eine Auslandsreise unternommen. Der Prozentsatz deckt sich allgemeinen Einschätzungen zufolge – einmal abgesehen von der kleinen Millionärsschicht – weitgehend mit der Grö- ße der russischen Mittelschicht.
Nun, da alles auf den Kopf gestellt ist und Reisen ins Ausland den Anstrich von Illoyalität haben, geht auch der Wirtschaftszweig des Tourismus baden. So hat sich die Zahl der Auslandsreiseveranstalter 2015 um satte 70 Prozent auf 685 verringert, so die Assoziation russischer Reiseveranstalter (Ator). „Die ganze Sparte steht vor einem Neuanfang“, erklärt Gerald Böhm, Russland-Chef der Österreich Werbung, im Gespräch.
Neuanfang heißt unter anderem Entwicklung neuer Destinationen als Ersatz für die bestehenden. Erste Analysen von Touristenströmen zeigen, dass in der jetzigen Wintersaison Thailand, Indien oder Vietnam stärker nachgefragt wurden.
Binnentourismus liegt in Geburtswehen
Nur der Binnentourismus kommt bei Weitem nicht so vom Fleck, wie sich das die patriotischen Beamten vorgestellt haben. Ein Plus von 30 Prozent hatten sie prognostiziert. Geworden seien es nur plus zehn bis 15 Prozent, so Ator-Direktorin Maja Lomidze. In Wahrheit nämlich lassen es die einheimischen Urlaubszentren genau an jenem Patriotismus fehlen, den die Staatsdiener auf den Lippen tragen.
Während andere Länder mit Spezialangeboten locken, würden russische Destinationen ständig mit Preiserhöhungen für ihre eigenen Landsleute spekulieren, so Lomidze: Sie „verharren in einer Euphorie, weil sie erwarten, dass alle Touristen, die nicht in die Türkei oder nach Ägypten reisen, zu ihnen fahren. Aber bei solchen Preisen wird das niemand tun.“
Die Euphorie ist sagenhaft. So haben russische Urlaubsorte auf der Krim erklärt, die Preise 2016 aufgrund des erwarteten Ansturms um 30 bis 50 Prozent zu erhöhen. Das bei teils mangelhafter Infrastruktur und rückständigem Service. Genau darüber nämlich beschweren sich Touristen am häufigsten. „Es gibt bislang keinen Binnentourismus als eigene Industrie“, konstatierte Konstantin Gorjainov, General Manager des Marriott Royal Aurora in Moskau und damit der erste Russe an der Spitze eines Fünfsternehotels in Russland, kürzlich unverblümt in einem Interview: „Das, was in Sotschi (Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014 am Kaukasus, Anm.) gemacht wurde, ähnelt zwar mehr oder weniger einer solchen Industrie, aber man darf nicht vergessen, dass es dort jetzt nur deshalb voll gebucht ist, weil andere Destinationen geschlossen sind.“
Es steht also alles Kopf im russischen Tourismus. Immerhin tragen die meisten russischen Urlaubsbedürftigen die Situation mit dem landeseigenen Humor. Und reagieren daher auf die politischen oder finanziellen Auslandsreisebeschränkungen vielfach mit einem Rückzug, nämlich jenen ins eigene Reich: die traditionelle Datscha – jenes Vorstadthäuschen, wo im Sommer gegrillt, im Winter Skilanglauf betrieben und zu jeder Zeit gefeiert wird.