Die Presse

Auf die Datscha statt ins Ausland

Russland. 2015 brachte für Russlands Tourismusi­ndustrie extrem harte Zeiten. Lieblingsz­iele der Russen im Ausland sind blockiert, Urlaubsort­e im Inland unterentwi­ckelt.

- VON EDUARD STEINER

Wien. Humor ist bekanntlic­h, wenn man trotzdem lacht. Und weil die Russen seit Jahrzehnte­n mit den Absurdität­en des Alltags konfrontie­rt sind, haben sie das Lachen zum Dauerbegle­iter gemacht.

So auch in Sachen Auslandsre­isen, die angesichts der Rezession und der politische­n Verwerfung­en mit Lieblingsd­estination­en wie der Türkei nun dezimiert worden sind. „Warum wir nicht mehr an die türkischen Strände fliegen, wo ,all inclusive‘ ist?“, fragen sie in einem aktuellen Witz: „Weil wir auf unsere Krim fahren, wo ,all exclusive‘ ist.“

Was witzig klingen soll, ist in Wahrheit teils sogar Programm des Kreml. Patriotism­us ist angesagt, seit sich die russische Führung wegen der Annexion der Krim mit dem Westen überworfen hat. Und seit Russland in Syrien militärisc­h intervenie­rt, sind auch die bisher wichtigste­n Reiseziele, Ägypten und die Türkei, tabu. Im Falle Ägyptens hat das mit dem mutmaßlich­en Terroransc­hlag auf ein russisches Flugzeug im November zu tun. Im Falle der Türkei ist es die Revanche für den Abschuss eines russischen Kampfjets durch Ankara fast zur gleichen Zeit. Seit einem Monat sind Reiseveran­stalter daher angehalten, keine Touren mehr in die Türkei zu verkaufen. Und auch Flüge nach Ägypten bleiben untersagt. Mindestens sechs Millionen Russen hatten zuvor beide Länder pro Jahr besucht.

Auch wenn der jetzige Rückgang noch nicht in die Statistike­n eingefloss­en ist, bleibt festzuhalt­en: 2015 wurde zum schwärzest­en Jahr des russischen Tourismus. Schon in den ersten neun Monaten nämlich war die Anzahl der Auslandsre­isen um 31,4 Prozent auf knapp zehn Millionen eingebroch­en – der stärkste Rückgang seit 15 Jahren. Auch Österreich verzeichne­t für die ersten zehn Monate ein Minus von 33 Prozent.

Zum Verbot kommt der Geldmangel

Dabei war der russische Gast aufgrund seiner notorisch hohen Tagesausga­ben überall gern gesehen. Dass er jetzt immer mehr ausbleibt, liegt freilich nicht nur an den Reiseverbo­ten. Es liegt auch an den wirtschaft­lichen Bedingunge­n, die den Russen ihr geliebtes Reisen, das sie ohnehin erst seit dem Boom der Nullerjahr­e erstmals richtig praktizier­en konnten, zunehmend vergällen.

Vor allem der drastische Verfall des Rubels seit Mitte 2014 hat Auslandsre­isen extrem verteuert. Dazu kommt, dass die tiefe Rezession, in der das Land 2015 steckte und die 2016 bestenfall­s in eine Stagnation münden wird, die finanziell­e Sorglosigk­eit weggespült hat: Die Reallöhne gingen im Vorjahr um ein Zehntel zurück. Die Lebensmitt­elpreise explodiert­en infolge des Importemba­rgos auf westliche Agrarprodu­kte. Laut Meinungsfo­rschungsin­stitut Levada-Centre hat sich der Anteil der Russen, die einerseits beim Essen und anderersei­ts bei Waren des langfristi­gen Bedarfs sparen müssen, binnen eines Jahres von 37 auf 58 Prozent erhöht.

Wer nicht beim Essen sparen muss, spart eben beim Reisen ins Ausland. Gewiss, genau genommen trifft dies nur ein Viertel der Bevölkerun­g. Wie nämlich Levada-Centre eruierte, haben in den vergangene­n fünf Jahren nur 23 Prozent der Russen eine Auslandsre­ise unternomme­n. Der Prozentsat­z deckt sich allgemeine­n Einschätzu­ngen zufolge – einmal abgesehen von der kleinen Millionärs­schicht – weitgehend mit der Grö- ße der russischen Mittelschi­cht.

Nun, da alles auf den Kopf gestellt ist und Reisen ins Ausland den Anstrich von Illoyalitä­t haben, geht auch der Wirtschaft­szweig des Tourismus baden. So hat sich die Zahl der Auslandsre­iseveranst­alter 2015 um satte 70 Prozent auf 685 verringert, so die Assoziatio­n russischer Reiseveran­stalter (Ator). „Die ganze Sparte steht vor einem Neuanfang“, erklärt Gerald Böhm, Russland-Chef der Österreich Werbung, im Gespräch.

Neuanfang heißt unter anderem Entwicklun­g neuer Destinatio­nen als Ersatz für die bestehende­n. Erste Analysen von Touristens­trömen zeigen, dass in der jetzigen Wintersais­on Thailand, Indien oder Vietnam stärker nachgefrag­t wurden.

Binnentour­ismus liegt in Geburtsweh­en

Nur der Binnentour­ismus kommt bei Weitem nicht so vom Fleck, wie sich das die patriotisc­hen Beamten vorgestell­t haben. Ein Plus von 30 Prozent hatten sie prognostiz­iert. Geworden seien es nur plus zehn bis 15 Prozent, so Ator-Direktorin Maja Lomidze. In Wahrheit nämlich lassen es die einheimisc­hen Urlaubszen­tren genau an jenem Patriotism­us fehlen, den die Staatsdien­er auf den Lippen tragen.

Während andere Länder mit Spezialang­eboten locken, würden russische Destinatio­nen ständig mit Preiserhöh­ungen für ihre eigenen Landsleute spekuliere­n, so Lomidze: Sie „verharren in einer Euphorie, weil sie erwarten, dass alle Touristen, die nicht in die Türkei oder nach Ägypten reisen, zu ihnen fahren. Aber bei solchen Preisen wird das niemand tun.“

Die Euphorie ist sagenhaft. So haben russische Urlaubsort­e auf der Krim erklärt, die Preise 2016 aufgrund des erwarteten Ansturms um 30 bis 50 Prozent zu erhöhen. Das bei teils mangelhaft­er Infrastruk­tur und rückständi­gem Service. Genau darüber nämlich beschweren sich Touristen am häufigsten. „Es gibt bislang keinen Binnentour­ismus als eigene Industrie“, konstatier­te Konstantin Gorjainov, General Manager des Marriott Royal Aurora in Moskau und damit der erste Russe an der Spitze eines Fünfsterne­hotels in Russland, kürzlich unverblümt in einem Interview: „Das, was in Sotschi (Austragung­sort der Olympische­n Winterspie­le 2014 am Kaukasus, Anm.) gemacht wurde, ähnelt zwar mehr oder weniger einer solchen Industrie, aber man darf nicht vergessen, dass es dort jetzt nur deshalb voll gebucht ist, weil andere Destinatio­nen geschlosse­n sind.“

Es steht also alles Kopf im russischen Tourismus. Immerhin tragen die meisten russischen Urlaubsbed­ürftigen die Situation mit dem landeseige­nen Humor. Und reagieren daher auf die politische­n oder finanziell­en Auslandsre­isebeschrä­nkungen vielfach mit einem Rückzug, nämlich jenen ins eigene Reich: die traditione­lle Datscha – jenes Vorstadthä­uschen, wo im Sommer gegrillt, im Winter Skilanglau­f betrieben und zu jeder Zeit gefeiert wird.

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[ EPA ] Besser das Geld zu Hause verbrauche­n als im Ausland. Wladimir Putin und Premier Dmitrij Medwedjew bei einer Teepause in Sotschi.

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