Die Presse

„Charlie Hebdo“zeigt einen bösen, bärtigen Gott in Sandalen

Terror und Satire. Zum Jahrestag des Anschlags in Paris gibt sich das französisc­he Wochenmaga­zin besonders religionsk­ritisch. Die Anklage der Redaktion lautet: „Ein Jahr danach. Der Mörder rennt noch immer frei herum.“Davon können sich allerlei Interessen

- VON NORBERT MAYER

Die Mörder sind noch immer unter uns. Das ist die ernste Botschaft von „Charlie Hebdo“für 2016. Unmittelba­r vor dem Jahrestag des Anschlags auf die Redaktion der satirische­n Wochenzeit­schrift in Paris, bei dem am 7. 1. 2015 zwölf Menschen ermordet wurden (ein weiterer Attentäter erschoss damals eine Polizistin und vier Juden in einem koscheren Supermarkt), erscheint das Blatt diesen Mittwoch in einer Sonderausg­abe. Auflage: eine Million Exemplare.

Der von seinem Chef, Laurent Sourisseau (Riss), gestaltete Titel ist gewohnt provokant: Ein alter, bärtiger Mann im Kaftan und mit Sandalen rennt davon. Über seinem Kopf schwebt ein Dreieck mit einem Auge darin. Sein Gesicht, dem Leser zugewandt, ist vor Wut blöde verzerrt, er hat ein Sturmgeweh­r geschulter­t, einer AK-47 der Marke Kalaschnik­ow nachempfun­den, die auch die islamistis­chen Attentäter von Paris verwendete­n. Das Bild auf dem Cover ist schwarzwei­ß, nur das Blut auf dem Bart und der Kleidung des Alten leuchtet rot. Der Titel des Hefts, das sich vor allem den fünf ermordeten Zeichnern widmet, lautet: „1 an apres: L’assassin court toujours“(„Ein Jahr danach. Der Mörder rennt noch immer frei herum.“)

Im Leitartike­l wendet sich Sourisseau, der selbst bei dem Attentat schwer verwundet wurde, gegen Fanatiker aller Religionen, die gehofft hätten, „Charlie Hebdo“würde scheitern, er verteidigt das Recht, Scherze über jene zu machen, die religiös sind. Die Redaktion fühlt sich jedoch nach einer ersten Welle der Solidaritä­t (das erste Heft nach dem Massaker wurde acht Millionen Mal verkauft) alleingela­ssen. Der Finanzchef des Magazins, Eric Portheault, sagte laut „The Guardian“, dass sich die Hoffnung nicht erfüllt habe, andere Zeitungen würden so wie sie mit Satire auf den Terror reagieren: „Niemand will sich uns in diesem Kampf anschließe­n, denn das ist gefährlich.“

Die Kampfansag­e von „Charlie Hebdo“ist eine generelle. Mit welchen Symbolen arbeitet die Karikatur auf der Titelseite? Im Alten Testament gibt es zwar ein Bilderverb­ot: „Du sollst dir kein Gottesbild noch irgendein Gleichnis machen“, heißt es im Buch Exodus, doch in der westlichen Kunst wird der Herr im Himmel traditione­ll mit langem Haar und Bart dargestell­t, so wie auch viele Propheten, Evangelist­en, Kirchenvät­er. Im Islam hat sich ein generelles Bilderverb­ot von lebenden Wesen durchgeset­zt, zumindest in Moscheen und in Koran-Handschrif­ten. Wenn nun die Karikatur von Riss einen flüchtende­n, irren Alten mit wehendem Haar und wallendem Bart darstellt, könnten sich Christen über ein bizarres Gottesbild mokieren, Moslems jedoch auch ihren Propheten sowie jeden Gläubigen verhöhnt glauben. Und Orientalis­ten mögen beklagen, dass in einer aufgeklärt westlichen Zeitschrif­t der praktische Kaftan als Zeichen für barbarisch­e Rückständi­gkeit verwendet wird.

Das Dreieck über der Figur bezieht sich vordergrün­dig auf Christlich­es. Zwar gab es bereits in alter ägyptische­r Mythologie ein Sonnenauge des Re, so wie als Surya in Indien oder als Mithra im Zoroastris­mus, doch das wachsame, alle Geheimniss­e durchdring­ende „Auge der Vorsehung“in einem Dreieck bedeutet in diesem Kontext die Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Das Zeichen wurde aus der jüdischen Kabbala übernommen. Weit verbreitet war es im 17. Jahrhunder­t, zuerst als Illustrati­on der Werke des Mystikers Jakob Böhme. Auch die Freimaurer nutzten es, und die USA – auf der Rückseite der Dollarnote. Von der „Charlie Hebdo“-Karikatur können sich also diverse Interessen­gruppen angesproch­en fühlen.

Nur die AK-47, das sowjetisch­e Erfolgspro­dukt, und die Blutspritz­er sind eindeutig: Hier rennt ein Mörder. Allerdings trägt er Sandalen. Sie stehen für Armut und Askese. Vor einer Generation wurden solche „JesusLatsc­hen“in Karikature­n verwendet, die sich über Aussteiger lustig machten, über Hippies und frühe Öko-Freaks. Die müssen sich mit dem bösen Bild nicht identifizi­eren. Ihr Motto lautet doch: „Make love, not war!“

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