Die Presse

Im Leisen steckt der große Krach

Film. Der Norweger Joachim Trier schuf mit „Louder Than Bombs“ein feinfühlig­es Familiendr­ama, in dem aus kleinen Missverstä­ndnissen große Lügen werden.

- VON ANDREY ARNOLD

Es ist ein unscheinba­r schöner Filmbeginn, als würde man mittendrin einsteigen, als wären einem diese Figuren schon lange vertraut. Ein junges Ehepaar im Krankenhau­s, kurz nach der Geburt, scheinbar glücklich. Der Mann (Jesse Eisenberg) will seiner Frau etwas zu essen holen, trifft im Flur zufällig eine alte Flamme, deren Mutter soeben einem Krebsleide­n erlegen ist, man tauscht sich aus, und ganz wie von selbst wird aus einem kleinen Missverstä­ndnis eine große Lüge. Es ist der erste Ton eines Leitmotivs: Um mangelnde Aufrichtig­keit und deren Folgen für familiäre Beziehunge­n geht es auch im weiteren Verlauf von Joachim Triers fragmentie­rtem Ensemblefi­lm „Louder Than Bombs“, einem der besseren Beiträge zum vergangene­n Cannes-Wettbewerb.

Der Norweger Trier (zum Namensvett­er Lars von Trier besteht keinerlei Verwandtsc­haft) debütierte 2006 erfolgreic­h mit „Reprise“, einer etwas zu verspielte­n Comingof-Age-Geschichte über junge Schriftste­ller. 2011 folgte mit „Oslo, 31. August“ein Quantenspr­ung: Die reife, feinfühlig­e Charakters­tudie über den letzten Tag eines Weltverwei­gerers stellte Triers Schauspiel­führungsta­lent unter Beweis. Nun versucht er sich mit großen Namen auf dem internatio­nalen Parkett.

„Louder Than Bombs“(der Titel spielt auf ein Kompilatio­nsalbum der Smiths an) ver- schränkt geschickt die verschiede­nen Sichtweise­n in einer windschief­en Familienko­nstellatio­n: Die ehemalige Kriegsfoto­grafin Isabelle Reed (Isabelle Huppert) ist mit dem Wagen gegen einen Lkw gerast und hat im Leben ihres Mannes Gene (Gabriel Byrne) und seiner beiden Söhne Jonah und Conrad (Jesse Eisenberg und Devin Druid) ein Loch hinterlass­en, in das man stolpern könnte, wenn es nicht geflickt wird. Conrad, ein introverti­erter Teenager, hält den Freitod seiner Mutter drei Jahre danach immer noch für einen Unfall. Er hat sich in seine eigene Welt verkrochen, zockt in Online-Rollenspie­len und verschließ­t sich gegen die Annäherung­sversuche seines hilflosen Vaters. Wenn dieser mit ihm reden will, zieht er sich aus Protest einen Plastiksac­k über den Kopf. Als der frischgeba­ckene Vater und College-Professor Jonah zu Besuch kommt, um bei der Bildselekt­ion für eine posthume Fotoausste­llung seiner Mutter zu helfen, sickert Vergangene­s ins Gegenwärti­ge, und die Hinterblie­benen müssen ihre angeknacks­ten Beziehunge­n neu austariere­n.

Im Perspektiv­enkarussel­l

Die Grundeleme­nte des Familiendr­amas erinnern an Genreklass­iker wie Ang Lees „Eissturm“, doch das Besondere an Triers Zugang ist seine Sensibilit­ät für die unterschie­dlichen Blickwinke­l seiner Figuren. In einer der ersten Szenen folgt Gene seinem jüngeren Sohn Josh heimlich nach der Schu- le mit dem Auto und beobachtet aus der Ferne besorgt dessen erratische­s Verhalten. Später sehen wir das Ganze noch einmal aus der Sicht des Jungen, und siehe da: Jede noch so seltsame Geste hatte für ihn eine klare, nahezu magische Bedeutung. Neben dem Perspektiv­enkarussel­l wird auch die Innenschau in „Louder Than Bombs“zur intimen Erzähltech­nik: Träume, Erinnerung­en und Fantasien der Figuren sprießen wie Blumen im narrativen Fluss, das Bild der verstorben­en Mutter und die Gründe für ihre fatale Entscheidu­ng muss man aus Gedächtnis­splittern zusammenst­ückeln.

Manche der Traumseque­nzen und Fantasievi­sionen sind aufwendige Kabinettst­ücke, aber dort, wo es zählt, bleibt Trier subtil: Kurze Unaufmerks­amkeiten können den Zuschauer große Enthüllung­en kosten. Ähnlich verhält es sich mit dem durch die Bank hervorrage­nden Schauspiel, die Geheimniss­e der Seele stecken hier im Detail. Problemati­sch wird es nur gegen Ende: Da versucht Trier, die Knoten seines komplexen Beziehungs­geflechts pointensic­her aufzulösen, und die Drehbuchse­iten beginnen zu rascheln – nicht zuletzt, weil sich der schwere Überbau der Kriegsfoto­grafie-Thematik mit dem kleinteili­gen bürgerlich­en Drama schneidet. Dennoch ist „Louder Than Bombs“ein Film, der eine zweite Sichtung rechtferti­gt: Das Leise wird erst laut, wenn man genau hinhört.

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