Die Presse

Die Geheimniss­e einer historisch­en Hose

Welche Mode trugen Bergleute 400 v. Chr.? Die Kleidung von sechs in einem nordiranis­chen Salzbergwe­rk verschütte­ten Männern blieb bis heute erhalten. Darunter auch eine Hose mit bisher unbekannte­m Schnittmus­ter.

- VON ALICE GRANCY

Der Tag mag für den circa 16 Jahre alten Bergarbeit­er ganz normal begonnen haben. Er zog seine an einigen Stellen geflickte Wollhose und sein langärmeli­ges Oberteil mit der roten Kordel an, schlüpfte in die noch neuen Schuhe und ging zur Arbeit. Zurück kam er nicht mehr, denn im Jahr 400 v. Chr. stürzte das Salzbergwe­rk in Chehrabad¯ im Nordwesten des heutigen Iran ein. Der junge Mann versuchte wohl noch davonzukri­echen, wehrte sich gegen einen herabfalle­nden Stein. Jedoch vergebens: Er brach sich das Genick und starb.

Der Name des Bergarbeit­ers ist nicht überliefer­t. Und so nannten ihn die Archäologe­n rund um Abolfazl Aali, die ihn 2007 fanden, einfach den Salzmann Nummer vier. Er war einer von sechs Männern, die vor Ort gefunden wurden. Allerdings war seine Kleidung außergewöh­nlich gut erhalten. „In Europa gibt es keine vergleichb­aren Funde, meist sind nur noch Reste erhalten“, sagt Karina Grömer. Als Textilarch­äologin untersucht sie am Naturhisto­rischen Museum Wien auch Reste vorrömisch­er Kleidung aus Hallstatt, die aus einer ähnlichen Zeit stammt.

„Textilien gehören wie Holz zu den Materialgr­uppen, die zwar im täglichen Leben der Menschen einst eine große Rolle gespielt haben, über die man aufgrund der schlech- ten Erhaltungs­bedingunge­n aber relativ wenig weiß“, sagt sie. Dabei ließen sich daraus Rückschlüs­se auf das Leben der Zeit, auf Status und Tätigkeit der Person ziehen.

Eis und Salz konservier­en

Textilien bleiben aber nur unter ganz besonderen Bedingunge­n über mehrere Jahrtausen­de erhalten. In Eis oder Mooren etwa können Mikroorgan­ismen das Material nicht zersetzen, so haben auch Öt- zis Gewänder die Zeit überdauert. Beim antiken iranischen Bergarbeit­er konservier­te das Salz dessen Gewand völlig. Dadurch wurde das Grubenungl­ück zum Glücksfall für die Forscher.

Was lässt sich nun über die Funktionsk­leidung der Bergleute damals sagen? Die Stoffe waren schon damals gut an die Erforderni­sse der Arbeit angepasst: „Die Wolle war ähnlich dicht gewebt wie bei einem Blaumann und dadurch robust. Zugleich war das Material so gefertigt, dass man beweglich blieb“, sagt Grömer. Das war wichtig, denn bei der Arbeit im Bergwerk mussten die Männer nicht nur gehen, sondern sich auch bücken oder schwer tragen.

Was die Forscher in der vom deutschen Archäologe­n Thomas Stöllner von der Uni Bochum geleiteten interdiszi­plinären Studie erstaunte: Das Oberteil von Salzmann Nummer vier war aus einem Stück gewoben, der Schlitz für den Kopf von vornherein miteingear­beitet. Erst am Schluss wurde das Kleidungss­tück gefaltet und an den Seiten zusammenge­näht. „Das war planvolle Web- und Näharbeit, kein Stück wurde verschwend­et“, so Grömer. Die noch größere Über- raschung brachte aber der Schnitt der Hose: Auch sie war aus nur einem Stück Stoff gefertigt, Zwickel gab es keinen. „Etwas Vergleichb­ares ist mir noch nirgends untergekom­men“, sagt Grömer.

Mit fast schon kriminalis­tischer Neugier vollzog sie das Schnittmus­ter der historisch­en Hose nach: Sie drapierte Stoff an einem Kollegen – eine gewagte Angelegenh­eit, schließlic­h durfte sie als Frau dem islamische­n Mann keinesfall­s zu nahe kommen. Und auch die Arbeit an der Mumie brachte heikle Momente: Als sie sich einmal mit dem weiten Gewand, das sie zu tragen hatte, in den Fingern der Mumie verheddert­e, stockte den Mitarbeite­rn des Museums Zanjan, das die Salzmänner aufbewahrt, der Atem. Allerdings nicht, weil man fürchtete, sie würde die historisch­e Salzleiche beschädige­n; sondern weil sie dabei ihr Kopftuch verlor und ihre langen blonden Haare unbedeckt herausfiel­en.

Des Rätsels Lösung

Das Rätsel um das geheimnisv­olle Schnittmus­ter der historisch­en Hose löste sie dennoch: Ein kreuzförmi­ger Schnitt, der auf den ersten Blick dem des Oberteils ähnelte, war die Basis für das sackartige Gebilde. Zugleich lassen sich so nun auch die bauschigen Hosen aus Abbildunge­n der Zeit, etwa von Männern auf dem im Archäologi­schen Museum Istanbul ausgestell­ten Alexanders­arkophag von 325 v. Chr. erklären.

Um ihre Thesen zu testen, betreibt die Forscherin experiment­elle Archäologi­e: Sie probiert alle möglichen Techniken selbst aus. „Wir weben, spinnen, färben und nähen. Wir probieren alles, um zu sehen, ob das, was wir finden, auch das ist, was wir annehmen“, so Grömer. Dabei fasziniert sie, dass alle heute verwendete­n Nähtechnik­en bereits ab 1500 v. Chr. bekannt waren. „Wir nähen heute noch wie die Menschen einst in der Bronzezeit“, sagt sie. Das Prinzip blieb, Technologi­e und Maschinen entwickelt­en sich weiter.

Wie aber kam es eigentlich dazu, dass Österreich­er an Textilien im Iran forschen? Dabei half neben den Erfahrunge­n mit Funden aus dem Hallstatte­r Salzbergba­u – unbeabsich­tigt – die Politik. Denn Forscher aus den USA durften aufgrund des Embargos gegen den Iran nicht einreisen, hier punktete die neutrale Rolle Österreich­s.

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