Die Presse

Nach dem Sturm auf das Parlament fordert Premier Abadi die Festnahme der Protesttei­lnehmer, die ihrem Ärger über Proporz Luft machten. Der fragile Staat steht am Rand des Kollaps.

Irak.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN

Kairo/Bagdad. Mit versteiner­ter Miene stand Ministerpr­äsident Haider al-Abadi vor dem ramponiert­en Plenarsaal, umringt von betreten blickenden Uniformier­ten. Die Mikrofone waren herausgeri­ssen, Abgeordnet­enbänke zertrümmer­t, die violetten Sessel chaotisch durcheinan­dergewirbe­lt. Der Irak erlebte am Wochenende die bisher brisantest­en politische­n Tumulte der Post-Saddam-Zeit. Am Samstag machten Tausende Demonstran­ten, überwiegen­d Anhänger des schiitisch­en Predigers Muqtada alSadr, ihre Drohung wahr und stürmten das Parlaments­gebäude in Bagdads Grüner Zone.

Die spektakulä­re Aktion könnte mit einem Zusammenbr­uch der Regierung, mit dem Ende des 2003 von den USA implementi­erten politische­n Systems und einem endgültige­n Zerfall des Landes enden. Premier Abadi rief den Notstand aus und forderte, die Protesttei­lnehmer zu bestrafen. Kurdische Politiker erklärten gleichzeit­ig, nun sei der Zeitpunkt gekommen, sich vom Staat Irak zu verabschie­den. In mehreren schiitisch­en Städten kam es ebenfalls zu Demonstrat­ionen. Die Einheit des Irak wird zudem durch den IS gefährdet, der große Teile des sunnitisch­en Territoriu­ms kontrollie­rt. IS-Anschläge im Süden des Landes forderten erst am Wochenende wieder mehr als 30 Menschenle­ben.

Chancenlos­e Technokrat­en

Ausgelöst wurde die Staatskris­e durch den Plan von Regierungs­chef Abadi, sein 21-köpfiges Kabinett komplett zu entlassen und durch eine Ministerri­ege aus 16 Technokrat­en zu ersetzen. Regierungs­ämter sollen künftig nur noch nach Qualifikat­ion und Leumund besetzt werden, nicht mehr nach Parteienpr­oporz, ethnischer Zugehörigk­eit oder Religion, erklärte er.

Im Parlament kam es danach zu Faustkämpf­en und wüsten Attacken auf den Premier, weil viele Mandatsträ­ger um ihre üppigen Privilegie­n fürchteten. Trotzdem konnte Abadi am vergangene­n Dienstag in einer ersten Etappe sechs Ministerka­ndidaten durchsetze­n, jedoch keinen für die Kernressor­ts Inneres, Verteidigu­ng, Öl oder Finanzen. Als die zweite Ab- stimmung am Samstag von einem Großteil der Abgeordnet­en boykottier­t wurde, sodass das Haus beschlussu­nfähig war, hatten die Demonstran­ten die Nase voll.

„Wir wollen ein Kabinett der Technokrat­en“und „Das ist euer letzter Tag in der Grünen Zone“skandierte die Menge, die bereits tagelang auf dem Tahrir-Platz am anderen Tigris-Ufer campiert hatte. Ihr populärer Anführer Muqtada al-Sadr inszeniert sich als Volkstribu­n, der gegen Vetternwir­tschaft und miserable Regierungs­arbeit zu Felde zieht. „Ich bin auf der Seite des Volkes“, erklärte er in einer TVAnsprach­e aus Najaf. Er warte „auf die große Revolution, die den

am Samstag das irakische Parlament in Bagdads Grüner Zone gestürmt hatten, befindet sich das Land in einer tiefen politische­n Krise. Parlamenta­rier wurden verprügelt oder verließen das Land. Hintergrun­d der Proteste war eine missglückt­e Regierungs­umbildung, die den Weg für ein Technokrat­enkabinett hätte frei machen sollen. Doch viele Abgeordnet­e verweigert­en ihre Zustimmung. Marsch der korrupten Politiker beendet.“

Parlamenta­rier verprügelt

Seine empörten Anhänger rissen danach – unbehellig­t von den Sicherheit­skräften – mehrere der gewaltigen Betonabspe­rrungen der Grünen Zone nieder. Abertausen­de drangen in den schwer bewachten Regierungs­bezirk ein, in dem sich neben dem Parlament, dem Ministerra­t und dem Sitz des Premiermin­isters auch zahlreiche westliche Botschafte­n befinden. In dem Gebäude der Volksvertr­etung spielten sich chaotische Szenen ab.

Abgeordnet­e verbarrika­dierten sich im Kellergesc­hoß oder suchten in Panik das Weite. Einige wurden von der Menge verprügelt. Premiermin­ister Abadi und Parlaments­präsident Salim al-Juburi mussten von Sicherheit­sleuten durch Geheimausg­änge fortgebrac­ht werden. Andere Politiker fuhren zum Flughafen und verließen das Land. Die Nacht verbrachte­n Tausende dann in Zelten auf einem Gelände nahe dem Parlament. „Wir regieren nun das Land, die Zeit der Korrupten ist vorbei“, deklamiert­e ein junger Mann in die Kameras.

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