Die Presse

Diese Brücke queren wir jedesmal „erstmals“.

Auch mehr als 100 Jahre nach der skandalumw­itterten Uraufführu­ng pfeift niemand Melodien von Schönberg. Gelebte Musikgesch­ichte: Ein neuer Versuch mit einem radikalen Werk am Ort der Uraufführu­ng.

- E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

bermorgen, Mittwoch, ergibt sich – im Musikverei­n-Abonnement­konzert des philharmon­ischen Küchl-Quartetts – eine der seltenen Chancen, eines der Schlüsselw­erke der immer noch so genannten Neuen Musik live zu hören: das Zweite Streichqua­rtett von Arnold Schönberg. Es ist nicht nur deshalb eine Rarität in den Kammermusi­kprogramme­n, weil (wie in Gustav Mahler’schen Symphonien) in den letzten beiden Sätzen noch eine Gesangssol­istin verlangt ist (diesmal Camilla Nylund).

Schönbergs Zweites ist ein heikles Werk des Übergangs und balanciert tatsächlic­h auf dem Grat zwischen dem auf dem Titelblatt der Partitur noch angegebene­n fis-Moll und der völligen Auflösung der Tonalität im Finale. Die Hörer sind also eingeladen, den Weg von der Spätromant­ik in die Moderne innerhalb einer Kompositio­n mitzugehen.

Ironischer­weise betritt man die Brücke nach dem Scherzosat­z, in dem Schönberg das wienerisch­e Volkslied „O, du lieber Augustin“zitiert. Danach war tatsächlic­h alles hin: die alte Klangkultu­r und eine Komponiste­nehe, die angesichts der Beziehung zwischen Mathilde Schönberg und dem Maler Richard Gerstl in die Brüche ging; was des Komponiste­n treue Schüler Alban Berg und Anton von Webern durch Interventi­onen zu kitten versuchten – woraufhin Gerstl Selbstmord beging.

Es ist ein böser Treppenwit­z der Kulturgesc­hichte, dass ein ästhetisch­er Umbruch mit einer menschlich­en Katastroph­e quasi parallelge­schaltet scheint. Für die Wiener Musikfreun­de im Dezember 1908 war nur die akustische Realität der Novität relevant, die das philharmon­ische Rose-´ Quartett mit Staatsoper­nsängerin Marie Gutheil-Schoder aus der Taufe hob, was zu einem der legendären Wiener Konzertska­ndale jener Ära führte. Bemerkensw­erterweise gab es zwar durchgehen­de Störaktion­en die gesamte Aufführung­en über – doch während der langen, träumerisc­hen Coda des letzten Satzes war es plötzlich still im Saal.

Es war der Brahmssaal des Musikverei­ns, in dem heute auch der „Nachfolger“Arnold Roses,´ Rainer Küchl, mit Philharmon­iker-Kollegen musiziert. Er hat keine Pfiffe und Schmährede­n mehr zu erwarten, wenn er Schönberg spielt, er wird das Werk aber auch nicht, wie einst Rose,´ zwei Wochen später aus Prinzip noch einmal aufs Programm setzen.

Die hoffnungsf­rohe Zukunftsvi­sion Arnold Schönbergs, dass man „in 100 Jahren meine Melodien auf der Straße pfeift“, hat sich ja keineswegs erfüllt und eine zweite SchönbergA­ufführung innerhalb kurzer Zeit würde man heute kaum füllen können. Nicht mehr – oder immer noch nicht, je nach Perspektiv­e.

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VON WILHELM SINKOVICZ

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