Auf die Körper . . . fertig . . . los!
Tanzquartier. Choreografin Meg Stuart unterhält, schockiert, erfrischt mit ihrem Stück „Until our hearts stop“: Ein haptisches Spektakel der permanenten Grenzüberschreitung.
Was passiert, wenn ich mich nackt zwischen angezogene Leute auf ein bereits voll besetztes Sofa zwänge? Darf ich irgendjemanden aus dem Publikum in mein Hotelzimmer einladen, nur weil er oder sie die Hand hebt, wenn ich frage? Und ist es okay, dem Publikum Praktiken aus billigen Sexshows unterzujubeln, wenn es doch eigentlich um eine Tanz-Performance geht (auch wenn der Zutritt erst ab 18 erlaubt ist)? Von der Publikumsbeschimpfung ganz zu schweigen: „Applaudiert ja nicht!“, droht ein Schauspieler grimmig, der gegen Ende der Vorstellung jeden der Musiker und Performer einzeln vorstellt – die Zuschauer reagieren wie erwartet. Keiner lacht. Der Applaus wird leiser, bis er ganz verstummt. Meg Stuart hat erreicht, was sie wollte: Sie verunsichert, sie unterhält, sie fordert heraus, stellt Normen und (Benimm-)Regeln in Frage.
In ihrem Stück „Until our hearts stop“, das im Tanzquartier zu sehen war, übertreten die Performer ständig die Grenzen des Benehmens, der Sittlichkeit, des Körpers – und fordern gleichzeitig vom Publikum die Einhaltung willkürlicher Regeln (kein Applaus!), bis man nach zwei Stunden so weichgeklopft ist, dass man sich über gar nichts mehr wundert. Das löst unterschiedlichste Reaktionen aus: Eine Frau erzählt, sie habe geweint – die Art, wie hier miteinander umgesprungen wird, habe sie traurig gemacht. Andere müssen oft lachen. Wenigen wird es zu bunt – oder aufgrund der auch vorhandenen Durchhänger im Spannungsbogen zu lang – sie verlassen den Saal. Wie überraschend, schockierend, überrumpelnd das Stück aber auch sein mag – es ist ein kompromissloses und erfrischendes Plädoyer für Körperkontakt. Es macht Spaß, diesen Menschen dabei zuzusehen, wie sie andere mit Liebkosungen fast erdrücken, in Gipfelstürmer-Siegerpose auf einer Menschenpyramide stehen oder sich gegenseitig beschnuppern wie die Hunde. Es ist ein teilweise orgiastisches, jedenfalls sehr haptisches Spektakel, das die Tänzer von Damaged Goods auch mit den Zuschauern teilen.
Stuart weckt Kindheitserinnerungen
Die Grenze zum Publikum? Auch sie wird an diesem Abend überrannt. Die Leute reißen sich nach anfänglicher Zurückhaltung um die Knetmasse, die Stück für Stück ins Publikum geschleudert wird – jeder will seine Fingernägel in diesen weichen Ball graben. Wann hat man das zuletzt gemacht? Eine Performerin geht durch und streichelt einem unvermittelt über die Haare. Das tut gut. Ein Herr wird wie beim Indianer-Spiel mit einem Seil gefesselt – und grinst. So lädt Meg Stuart jeden Einzelnen ein, seine eigenen Grenzen neu zu erleben (Was finde ich noch lustig? Was ekelt mich an?) und sich an die Kindheit zu erinnern, als man noch naiv war – und bereit für jede Entdeckungsreise. Das gibt dem ganzen Abend eine spielerische Note – und eine Heiterkeit, die einen daran hindert, sich vor den Kopf gestoßen zu fühlen.
Am Schluss ernten die sechs Performer Respekt und Applaus. Sie haben das Stück mit entwickelt – was da alles abläuft, dazu könnte man auch keinen zwingen, wenn er oder sie nicht will. Was bleibt, ist das Gefühl, endlich wieder mit den Zehen durch warmen Matsch zu gehen wie damals, als einem Schuhe noch so was von egal waren.