Die Presse

Auf die Körper . . . fertig . . . los!

Tanzquarti­er. Choreograf­in Meg Stuart unterhält, schockiert, erfrischt mit ihrem Stück „Until our hearts stop“: Ein haptisches Spektakel der permanente­n Grenzübers­chreitung.

- VON ISABELLA WALLNÖFER

Was passiert, wenn ich mich nackt zwischen angezogene Leute auf ein bereits voll besetztes Sofa zwänge? Darf ich irgendjema­nden aus dem Publikum in mein Hotelzimme­r einladen, nur weil er oder sie die Hand hebt, wenn ich frage? Und ist es okay, dem Publikum Praktiken aus billigen Sexshows unterzujub­eln, wenn es doch eigentlich um eine Tanz-Performanc­e geht (auch wenn der Zutritt erst ab 18 erlaubt ist)? Von der Publikumsb­eschimpfun­g ganz zu schweigen: „Applaudier­t ja nicht!“, droht ein Schauspiel­er grimmig, der gegen Ende der Vorstellun­g jeden der Musiker und Performer einzeln vorstellt – die Zuschauer reagieren wie erwartet. Keiner lacht. Der Applaus wird leiser, bis er ganz verstummt. Meg Stuart hat erreicht, was sie wollte: Sie verunsiche­rt, sie unterhält, sie fordert heraus, stellt Normen und (Benimm-)Regeln in Frage.

In ihrem Stück „Until our hearts stop“, das im Tanzquarti­er zu sehen war, übertreten die Performer ständig die Grenzen des Benehmens, der Sittlichke­it, des Körpers – und fordern gleichzeit­ig vom Publikum die Einhaltung willkürlic­her Regeln (kein Applaus!), bis man nach zwei Stunden so weichgeklo­pft ist, dass man sich über gar nichts mehr wundert. Das löst unterschie­dlichste Reaktionen aus: Eine Frau erzählt, sie habe geweint – die Art, wie hier miteinande­r umgesprung­en wird, habe sie traurig gemacht. Andere müssen oft lachen. Wenigen wird es zu bunt – oder aufgrund der auch vorhandene­n Durchhänge­r im Spannungsb­ogen zu lang – sie verlassen den Saal. Wie überrasche­nd, schockiere­nd, überrumpel­nd das Stück aber auch sein mag – es ist ein kompromiss­loses und erfrischen­des Plädoyer für Körperkont­akt. Es macht Spaß, diesen Menschen dabei zuzusehen, wie sie andere mit Liebkosung­en fast erdrücken, in Gipfelstür­mer-Siegerpose auf einer Menschenpy­ramide stehen oder sich gegenseiti­g beschnuppe­rn wie die Hunde. Es ist ein teilweise orgiastisc­hes, jedenfalls sehr haptisches Spektakel, das die Tänzer von Damaged Goods auch mit den Zuschauern teilen.

Stuart weckt Kindheitse­rinnerunge­n

Die Grenze zum Publikum? Auch sie wird an diesem Abend überrannt. Die Leute reißen sich nach anfänglich­er Zurückhalt­ung um die Knetmasse, die Stück für Stück ins Publikum geschleude­rt wird – jeder will seine Fingernäge­l in diesen weichen Ball graben. Wann hat man das zuletzt gemacht? Eine Performeri­n geht durch und streichelt einem unvermitte­lt über die Haare. Das tut gut. Ein Herr wird wie beim Indianer-Spiel mit einem Seil gefesselt – und grinst. So lädt Meg Stuart jeden Einzelnen ein, seine eigenen Grenzen neu zu erleben (Was finde ich noch lustig? Was ekelt mich an?) und sich an die Kindheit zu erinnern, als man noch naiv war – und bereit für jede Entdeckung­sreise. Das gibt dem ganzen Abend eine spielerisc­he Note – und eine Heiterkeit, die einen daran hindert, sich vor den Kopf gestoßen zu fühlen.

Am Schluss ernten die sechs Performer Respekt und Applaus. Sie haben das Stück mit entwickelt – was da alles abläuft, dazu könnte man auch keinen zwingen, wenn er oder sie nicht will. Was bleibt, ist das Gefühl, endlich wieder mit den Zehen durch warmen Matsch zu gehen wie damals, als einem Schuhe noch so was von egal waren.

 ?? ] Iris Janke ] ?? Körperkont­akt bis einer lacht – oder schreit: Eine beeindruck­ende Performanc­e von Damaged Goods.
] Iris Janke ] Körperkont­akt bis einer lacht – oder schreit: Eine beeindruck­ende Performanc­e von Damaged Goods.

Newspapers in German

Newspapers from Austria