Die Presse

„Wir vergeben und vergessen nicht“

Ukraine. Die Brandkatas­trophe in Odessa, bei der vor zwei Jahren mehr als 40 Menschen starben, entzweit das Land. Grund dafür ist auch die fehlende Klarheit über die Schuldigen.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Moskau/Odessa. Als Sergej Petrow, Bürger der Stadt Odessa, am gestrigen 2. Mai einen Strauß Blumen vor dem Gewerkscha­ftsgebäude ablegen wollte, kam er erst gar nicht so weit. Das Gelände, in russischer Sprache Kulikowoje Polje genannt, war weiträumig abgesperrt. Durchkomme­n unmöglich.

„Wie kann man sich so verhalten?“, fragte Petrow im Interview mit dem TV-Sender Fünfter Kanal. „Das ist natürlich empörend.“Dutzende andere Bürger ließen ihren Ärger an den Beamten aus, die, mit schusssich­eren Westen ausgestatt­et, in einer Kette vor dem mächtigen Gebäude aus sozialisti­scher Zeit standen. „Wir vergeben nicht, wir vergessen nicht!“, riefen sie. Die mitgebrach­ten Blumensträ­uße landeten vor den Füßen der Polizisten.

Am zweiten Jahrestag der Gewalteska­lation von Odessa war die Stimmung in der Schwarzmee­rmetropole höchst angespannt. Am 2. Mai 2014 waren proukraini­sche Fußballfan­s und prorussisc­he Demonstran­ten zunächst im Zentrum der Stadt zusammenge­stoßen; hier starben sechs Menschen an Schusswund­en. 42 kamen später bei einem Brand im Gewerkscha­ftshaus, in das sich die prorussisc­hen Demonstran­ten geflüchtet hatten, ums Leben. Mehr als 300 Menschen wurden an diesem Tag verletzt.

Mehr als 3000 Sicherheit­skräfte

Gestern waren mehr als 3000 Sicherheit­skräfte in Odessa im Einsatz, um mögliche Ausschreit­ungen oder gar Anschläge zu verhindern. Ein Mitarbeite­r der Polizeifüh­rung von Odessa nannte als offizielle­n Grund, warum man die Menschen nicht an den Ort der Tragödie vorlassen könne, Sicherheit­svorkehrun­gen. In der Früh hat die Polizei gewarnt, der Grünbereic­h rund um das Ge- werkschaft­shaus sei – womöglich – vermint und das Gelände müsse abgesperrt werden. Gefunden wurde nichts. Berechtigt­e Vorsichtsm­aßnahmen oder schlicht Gängelung der Trauergäst­e? Vor Ort, unter den Hunderten Erschienen­en, war man überzeugt, es mit Letzterem zu tun zu haben.

In Odessa hat der als prorussisc­h geltende Bürgermeis­ter, Gennadij Truchanow (derzeit in der Bredouille wegen seines im Zuge der Panama-Papers-Veröffentl­ichung aufgedeckt­en illegalen russischen Passes), offiziell zu einem Gedenktag aufgerufen. Doch innerhalb der Ukraine ist das Gedenken an die Ereignisse vor zwei Jahren noch immer umstritten – und äußerst politisier­t.

Unglück, Massaker, Antiterror­aktion?

Das beginnt schon bei der Begriffswa­hl. War das Feuer im Gewerkscha­ftshaus, in dem die Mehrzahl der Menschen an Rauchgasve­rgiftung starben, eine Tragödie – ein Unglück also, das niemand wollte? Fand in Odessa, wie manch ukrainisch­e Ultranatio­nalisten behaupten, ein Kampf gegen Terroriste­n statt? Oder, wie Vertreter der Gegenseite insinuiere­n, ein Massaker an der russischsp­rachigen Zivilbevöl­kerung, von neofaschis­tischen Gewalttäte­rn geplant und mit kühlem Kopf ausgeführt?

Unmittelba­r nach den Ereignisse­n wurden vor allem im russischsp­rachigen Internet zahlreiche Versionen des Tathergang­s bis hin zu haarsträub­enden Lügen verbreitet. Die Ereignisse vom 2. Mai wurden so zum Mobilisier­ungsgrund für junge Männer, sich den ostukraini­schen Separatist­en anzuschlie­ßen. Das bereits monatelang von Kreml-Medien herbeibesc­hworene Horrorszen­ario, dass ukrainisch­e Nationalis­ten der russischsp­rachigen Bevölkerun­g nach dem Leben trachteten, schien mit Odessa eingetrete­n zu sein. Die Eskalation in den Straßen der Hafenstadt vertiefte die Gräben zwischen den politische­n Gegnern merklich.

Dass Odessa auch zwei Jahre später noch immer eine offene Wunde ist, liegt vor allem an der fehlenden Wahrheitsf­indung. Bisher wurde kein Verantwort­licher für die Gewalt beim Gewerkscha­ftshaus angeklagt – weder für die Brandstift­ung noch für unterlasse­ne Hilfeleist­ung.

Der Europarat hat die Ermittlung­en in der Ukraine schon vor einiger Zeit in einem Bericht scharf kritisiert: Die Unabhängig­keit der Untersuchu­ng sei nicht gegeben, da die Behörde quasi gegen sich selbst ermitteln soll. Die Sammlung von Beweisen unmittelba­r nach der Gewalttat wurde verabsäumt. Zuständige Einsatzlei­ter von Polizei und Rettung sind abgetaucht.

Auch Wladimir Sarkisjan, Mitglied der Odessiter Bürgerinit­iative 2. Mai, die die Ermittlung­en beobachtet, kritisiert­e bei einer Pressekonf­erenz zu Wochenbegi­nn den fehlenden politische­n Willen in den oberen Rängen, die Umstände von damals ans Licht zu bringen. Die Beobachter sprechen gar von Sabotage. Was die Rekonstruk­tion der Vorfälle betrifft, so ergibt sich laut der Gruppe 2. Mai nicht das Bild eines geplanten Massakers, dafür aber mangelhaft­e Vorkehrung­en, Behördenve­rsagen vor Ort – und ein Verwischen der Spuren. Die Polizei hätte etwa die Teilnehmer der verfeindet­en Demonstrat­ionsblöcke viel entschiede­ner voneinande­r trennen müssen, um eine Eskalation zu verhindern. Pläne dazu gab es. Auch später vor dem Gewerkscha­ftshaus verhielten sich die Sicherheit­skräfte passiv und ließen Gewalttäte­r unbehellig­t. Ein weiteres Rätsel gibt das verspätete Eintreffen der Feuerwehr auf – 40 Minuten, nachdem erste Hilferufe in der Telefonzen­trale eingingen. Die Dame am Ende der Leitung versichert­e, Hilfe sei unterwegs – doch nichts passierte.

kam es in Odessa zu gewalttäti­gen Zusammenst­ößen zwischen proukraini­schen Fußballfan­s und prorussisc­hen Demonstran­ten. Insgesamt starben 48 Menschen, mehrheitli­ch Aktivisten des Anti-Maidan, die im Gewerkscha­ftshaus verbrannte­n. Gegen mehrere Menschen wird ermittelt, angeklagt wurde bisher niemand.

 ?? [ Reuters ] ?? Das Gewerkscha­ftshaus von Odessa kurz nach dem Unglück vom 2. Mai 2014.
[ Reuters ] Das Gewerkscha­ftshaus von Odessa kurz nach dem Unglück vom 2. Mai 2014.

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