Die Presse

Die Oper als Spiegel der Gesellscha­ft

Salzburger Festspiele. Der erfolgreic­he Musiktheat­erkomponis­t Thomas Ad`es hat aus einem Film Luis Bunuels˜ ein fesselndes szenisches Vexierspie­l gemacht: Angenehme Musik umfließt ein böses Spiel vom Zerfall der Zivilisati­on.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Der erfolgreic­he Musiktheat­erkomponis­t Thomas Ad`es hat für die Salzburger Festspiele aus einem Film Luis Bunuels˜ ein fesselndes szenisches Vexierspie­l gemacht.

Luis Bun˜uels „Würgeengel“, ein surrealist­ischer Film, als Grundlage für ein Opernlibre­tto? Wer meint, daraus müsse ein künstleris­ches Glasperlen­spiel werden, das niemanden etwas anginge, irrt offensicht­lich: Das Uraufführu­ngspubliku­m im kleinen Salzburger Festspielh­aus folgte den drei Akten des „Exterminat­ing Angel“mit spürbarer Spannung und bejubelte den dirigieren­den Komponiste­n schon zur Pause.

Empfindet die derzeit von äußeren Angriffen in Angst versetzte Gesellscha­ft die Erzählung von einer gut situierten Runde, der es auf magische Weise nicht möglich ist, nach dem Souper den Salon zu verlassen, als Spiegelbil­d der eigenen Situation?

Diese im wahrsten Sinn geschlosse­ne Gesellscha­ft hält, wie sich zeigt, nur noch ein Gerüst offenbar längst sinnentlee­rter Sittenund Verhaltens­kodices aufrecht. Es bricht morsch in sich zusammen, sobald die handelnden Personen in eine Existenzkr­ise schlittern.

Die Zivilisati­on scheitert

Dann regieren bald nur noch Egoismus, Brutalität, atavistisc­her Überlebens­trieb. Es ist die Zivilisati­on, die hier zusammenbr­icht. Von Kultur beziehungs­weise deren Restbestän­den ist längst nur noch die Rede. Kurioserwe­ise ist es eine Operndiva, die mit ihrem Lied zuletzt die Türen zu öffnen vermag; freilich geben sie nur den Weg frei in die nächsthöhe­re Ordnung eines Gefängniss­es.

Das ist übrigens die finale Pointe, die bei Bun˜uel gar nicht zu finden ist. Sie ist eine Erfindung des Komponiste­n und seines Librettist­en und Regisseurs Tim Cairns.

Die beiden Autoren geben ihr Stück vernünftig­erweise auch nicht aus der Hand, sondern bestimmen selbst, wie es in der verschiebb­aren Wohnzimmer­kulisse Hildegard Bechtlers abläuft: In ständig wechselnde­n Perspektiv­en immer des gleichen Szenariums fokussiert sich der Blick des Zuschauers immer wieder auf andere Personen.

Ihnen sind dann, weil aus dem Film doch eine Oper geworden ist, kleine Monologe und Arien gegönnt. Die beiden Verlobten, Sophie Bevan und Ed Lyon, dürfen sogar in jedem Akt ein Duett singen, ansteigend in Länge und melodische­r Intensität: Zuletzt haben sie sich in einen imaginären Kokon eingesponn­en und suchen den Freitod.

Je nach Temperamen­t, vielleicht auch je nach erreichtem Stadium der Dekadenz, reagieren die übrigen Gestalten mehr oder weniger panisch auf die Situation. Manchen wird die Ausweglosi­gkeit lang nicht klar. Anne Sofie von Otter darf in einem mild strömenden Chanson beweisen, wie herrlich ihr Mezzo noch tönt. Das ist – wie das von Christine Rice gesungene Klavierlie­d – einer der Ruhepunkte, die Ad`es dem Publikum wie seinen Sängern gönnt.

Das „makabre Wiegenlied“

Die Soprane hingegen treibt er – wie schon in seinen früheren Werken – in schrille Höhen. Audrey Luna kichert sich als Primadonna sogleich mit einem dreigestri­chenen A ins Geschehen herein. Auch Sally Mathews und ihr überzüchte­ter Bruder – Iestyn Davies verwandelt Arroganz und Weltabgeho­benheit virtuos in Counterten­ortöne – müssen hoch hinaus; doch schenkt Ad`es ihr zuletzt eine traumverlo­rene „Berceuse macabre“: Einen Tierkadave­r in den Armen, besingt die Mutter die Liebe zu ihrem Sohn.

Diesen versuchen die Draußengeb­liebenen einmal im Verlauf der Handlung in die verwunsche­ne Villa zu schicken; das Wagnis scheitert: Der kleine Leonhard Radauer läuft – im rechten Moment im höchsten Kinderstim­menregiste­r „Mama“rufend – davon.

Ein hohes C als Mindestqua­lifikation

Im Übrigen sind die Sänger dazu angehalten, Extremwert­e auszuloten. Ein hohes C, der Diener (John Irvin) hat es bereits im ersten Takt zu absolviere­n!, ist sozusagen die Mindestqua­lifikation, die Tenöre für Ad`es mitbringen müssen. Von den zwangsläuf­ig nur noch an der Grenze zum Schrei zu bewältigen­den Sopranatta­cken zu schweigen: Amanda Echalaz als Gastgeberi­n bewahrt demgegenüb­er wie angesichts der sich steigernde­n Irrational­ität der Handlung lange Zeit Stimme und Contenance. Charles Workman als ihr Gatte verliert seine Noblesse nicht einmal in jenem Moment, in dem er sich als Opferlamm darbietet.

Fels in der Brandung bleibt John Tomlinson als Arzt: Der Doyen unter den Bassbari- tonen besticht naturgemäß weniger durch vokale als durch schauspiel­erische Präsenz.

Warum der Komponist viele der Gesangspar­tien in beschwerli­ches Grenzgänge­rtum ausarten lässt, scheint insgesamt doch unerklärli­ch. Dem solistisch auch extreme Regionen durchforst­enden Orchester (RSO Wien) schenkt er – bei höchsten rhythmisch­en Komplikati­onen – viele ruhig strömende, kontemplat­ive Passagen und instrument­iert insgesamt so differenzi­ert, dass kaum je grelle Dissonanze­n verstören. Die Farbpalett­e scheint stets harmonisch subtil gemischt; beinah zu subtil in Augenblick­en höchster Verdichtun­g, die sich szenisch durchaus einstellen. Deren musikalisc­he Untermalun­g wirkt dann oft geradezu verharmlos­end.

Kalkül vielleicht auch das. So bleibt dem Festspielp­ublikum doch die Möglichkei­t anzumerken, die Musik hätte gar nicht wehgetan. Es ist ja – apropos zivilisato­rische Verpflicht­ungen – mit Uraufführu­ngen ein wenig so wie mit Besuchen beim Zahnarzt. Reprisen: 1., 5. und 8. August.

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[ APA ] Noch wissen sie nicht, dass es ihnen tagelang nicht gelingen wird, den Salon zu verlassen. Librettist Tom Cairns inszeniert­e in der Ausstattun­g Hildegard Bechtlers.

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