Die Presse

Mit der Kraft des Schweigens

Franziskus in Auschwitz. Beim Besuch des früheren Vernichtun­gslagers Auschwitz-Birkenau am Freitag verzichtet­e der Papst auf Worte. Er ließ das Dröhnen der Stille wirken – eine starke Geste.

- Von unserem Korrespond­enten PAUL FLÜCKIGER (AUSCHWITZ)

Mehr als eine Stunde haben die 1000 Gäste schweigend auf den Papst gewartet – statt zu singen und zu jubeln. Nun erhebt sich ein Klatschen, als Franziskus beim Opferdenkm­al zwischen den zwei größten Gaskammern des früheren deutschen KZ Birkenau (Auschwitz II) eintrifft. Doch Franziskus erwidert die Freude nicht, mit ernstem Ausdruck begrüßt er Polens Premiermin­isterin Beata Szydło, dann geht er gesenkten Hauptes hoch zu den Mahntafeln in den 23 Sprachen der Auschwitz-Opfer. Auf der Tribüne am gegenüberl­iegenden Ende des leeren Platzes weint ein Kleinkind.

Franziskus beugt sich über jede Gedenktafe­l und hat seine eigene Sprache für das Grauen gefunden: das Schweigen.

Still und mit von Schmerz verzerrtem Gesicht hatte Franziskus eine gute Stunde zuvor in Auschwitz ganz allein das Lagertor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“durchschri­tten. Schweigend saß er danach eine Viertelstu­nde lang allein auf einer Bank, stieg nach der herzlichen Begrüßung mit einer kleinen Gruppe Auschwitz-Überlebend­er in die dunkle Aushungeru­ngszelle des von seinem polnischen Vorgänger Johannes Paul II. heiliggesp­rochenen Franziskan­ermönchs Maximilian Kolbe herunter und verharrte auch dort lange im Gebet.

Nur das Kaddisch ertönte

Auf persönlich­en Wunsch hin hatte Franziskus das einstige NS-Vernichtun­gslager in seine fünftägige Polen-Reise integriere­n lassen, deren Höhepunkt die Abschlussm­esse des Weltjugend­tages in der Nacht auf Sonntag ist. Anstelle einer Ansprache vor den Ruinen der Gaskammern wünschte er sich stilles Gebet und Schweigen. Nur das Kaddisch, das jüdische Totengebet, ertönte dort an diesem Tag. Der Papst zündete eine schlichte Kerze unter dem Opferdenkm­al aus sozialisti­scher Zeit an.

„Franziskus sagt mehr durch seine Einstellun­g als durch Worte“, erklärt Rabbiner Abraham Skorka, ein enger argentinis­cher Freund des Papstes, diese Geste von Fran- ziskus. „Das Schweigen ist eine starke Botschaft“, sagt der Rabbiner. Im alttestame­ntarischen Buch der Klagen stehe, dass der Leidende sich zurückzieh­en und schweigen solle.

Auch der polnische Oberrabbin­er, Michael Schudrich, äußerte im Gespräch mit der „Presse“viel Verständni­s für die Geste von Franziskus, die so sehr im Gegensatz zu den wortgewalt­igen Auschwitz-Besuchen seiner zwei Vorgänger, Johannes Paul II. (1979) und Benedikt XVI. (2006), steht. „Wer innerlich tief betroffen ist, dem fehlen die Worte“, sagt Schudrich. Die früheren Päpste hätten diesen letzten Schritt erst „vorbereite­n“müssen, sagt Schudrich.

Der Präsident des Jüdischen Weltkongre­sses, Ronald Lauder, sagte am Freitag, das Verhalten des Papstes sei „angemessen“. Lauder bezeichnet­e den Auschwitz-Besuch als „starkes Signal“gegen den Hass. Franziskus sei für die jüdische Gemeinscha­ft einer der engsten Verbündete­n im Kampf gegen Antisemiti­smus und Fanatismus. Bereits als Bischof von Buenos Aires hatte Jorge Maria Bergoglio zu- sammen mit Rabbi Skorka jahrelang wöchentlic­h eine Fernsehdis­kussion zum christlich-jüdischen Dialog geführt. „Der Mord an jedem Juden ist ein Schlag in Gottes Angesicht“, pflegte Bergoglio zu sagen.

„Er hätte uns segnen können“

Auf gemischte Gefühle stieß Franziskus’ Sprechverw­eigerung indes unter polnischen KZ-Überlebend­en. „Zumindest segnen hätte er uns können“, sagt Barbara Doniecka, die als Elfjährige während des Warschauer Aufstands der Polnischen Untergrund­armee 1944 nach Auschwitz verschlepp­t wurde, zur „Presse“. „Franziskus ist ein sehr weiser Mann“, findet dagegen Roza Krzywoblok­a, „er strahlt eine tiefe Liebe für alle Menschen aus.“

Andere anwesende Juden erwarten nach dem Schweigen des Pontifex indes auch Taten, etwa die von Elie Wiesel angeregte Exkommuniz­ierung der schlimmste­n Nazi-Schergen. In einem Gästebuch des KZ-Museums trug Franziskus zwei kurze Sätze ein: „Herr, habe Erbarmen mit deinem Volk! Herr, vergib uns so viel Grausamkei­t.“

 ?? [ Reuters ] ?? Der Papst vor dem Tor zum einstigen Ort des Massenverb­rechens. Franziskus schreitet durch das Tor des KZs Auschwitz mit der berüchtigt­en Aufschrift „Arbeit macht frei“.
[ Reuters ] Der Papst vor dem Tor zum einstigen Ort des Massenverb­rechens. Franziskus schreitet durch das Tor des KZs Auschwitz mit der berüchtigt­en Aufschrift „Arbeit macht frei“.

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