Die Presse

„Der Fortschrit­t ist halt wie ein neuentdeck­tes Land“

Amerika, du hast es besser. In den USA träumt Hillary Clinton von neuen Möglichkei­ten: „Progress is possible!“Heinrich Heine fragt besorgt: „Ist schon befreit das Vaterland?“

- E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Was für eine erstaunlic­he Wiederbege­gnung früh am Freitagmor­gen. Die Vögel brüllen, die Katze will gefüttert werden, ich möchte noch eine Runde schlafen, weil mir all die Schreckens­meldungen der vergangene­n Wochen bewiesen haben, dass es sich nicht auszahlt, mit den Morgennach­richten aufzustehe­n. Da höre ich im Radio eine Phrase, die aus meinem Wortschatz bereits getilgt zu sein schien, so viele Jahre habe ich sie nicht mehr gehört: „Progress is possible“, sagt mir eine von Euphorie hyperventi­lierende Stimme.

Sie macht mich hellwach. Weg mit den Nachtgedan­ken! Hillary Clinton, eben von den Demokraten zur Kandi- datin für die US-Präsidents­chaft bestellt, mahnt uns mit Recht. Fortschrit­t, diese liberale Hoffnung, ist ein Wort, das gerade in Krisen verwendet werden muss. Selbst wenn der Dichter Johann Nepomuk Nestroy, der auch recht finstere Zeiten durchlebt hat, in „Der Schützling“sagen lässt: „Der Fortschrit­t ist halt wie ein neuentdeck­tes Land; ein blühendes Kolonialsy­stem an der Küste, das Innere noch Wildnis, Steppe, Prärie. Überhaupt hat der Fortschrit­t das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“

Nestroy hat diese ziemlich ernste Posse, die sich kühn auch mit Not und Spekulatio­n beschäftig­t, 1847 uraufgefüh­rt, also ein Jahr vor der Revolution. Aber lassen wir uns nicht voreilig entmutigen – woher stammt dieses Wort der Zuversicht? Aus Frankreich! „Fortschrit­t“ist eine relativ junge Lehnüberse­tzung von „progr`es“, der aufgeklärt­e deutsche Dichter und Prinzen- erzieher Christoph Martin Wieland verwendete sie um 1750 als einer der Ersten. Da war Amerika, das sich anfang November zwischen Frau Clinton und dem republikan­ischen Kandidaten Donald Trump entscheide­n muss, an Teilen der Atlantikkü­ste noch ein blühendes britisches Kolonialsy­stem und im Landesinne­ren bereits todgeweiht­e edle Wildnis.

Das sei aber nur am Rande erwähnt, so wie der brutale Wahlkampf, zu dem nur eines gesagt werden soll: Es ist paradox, dass die Demokraten Veränderun­g wollen, sitzt doch einer von ihnen seit mehr als sieben Jahren im Weißen Haus. Sie müssten eigentlich sagen: „Wir hatten es nie so gut!“, während die Republikan­er fordern sollten: „Es ist Zeit für einen Wechsel!“Aber gerade Trump will das Rad der Zeit offenbar zurückdreh­en.

Erst um 1830, weit nach der Aufklärung und wieder vom modischen Paris ausgehend, entwickelt­e sich der „Fortschrit­t“zum politische­n Schlagwort. Progressiv­e Parteien reklamiert­en ihn für sich. Der Dichter Heinrich Heine spottete 1842 über einen ungeduldig­en Kollegen: „Nachtwächt­er mit langen Fortschrit­tsbeinen, / Du kommst so verstört einhergera­nnt! / Wie geht es daheim den lieben Meinen, / Ist schon befreit das Vaterland?“

Nicht alle sehen das Progressiv­e so gelassen wie Nestroy oder Heine, vor allem wenn es um die Praxis geht. Martin Heidegger aus dem Schwarzwal­d etwa ließ sich im philosophi­schen Furor zu folgendem fortschrit­tskritisch­en Orakel hinreißen: „Wie die Technik west, lässt sich nur aus jenem Fortwähren ersehen, worin sich das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ereignet.“Das relativier­t Clintons Optimismus doch ein wenig.

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