Die Presse

Ein harmloser Tanz, eine große Kränkung

Ein Ereignis, eine Person – und jeder sieht die Dinge anders: Wie Missverstä­ndnisse geschaffen werden.

- Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentlic­hes Rundschrei­ben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskr­äfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt. debatte@diepresse.com

Ihr seid gewohnt, dass ich euch am Paschafest einen Gefangenen freilasse. Wollt ihr also, dass ich euch den König der Juden freilasse? Joh 18,39

Ein Feuer brannte im Garten, über dem ein paar Burschen Hühnerflüg­el grillten. Doch es goss in Strömen. Ein über die Feuerstell­e gespanntes Tischtuch hielt nicht lang und ließ das Wasser auf die Hühner rinnen. Schließlic­h aber war das Fleisch doch gar; völlig durchnässt liefen die Köche ins Haus.

Mit Hühnern, Bier und Orangensaf­t waren wir zu P. Calin, dem orthodoxen Pfarrer im Dorf, angerückt, um seinen Geburtstag zu feiern. In der großen Küche des Pfarrhause­s wurde es schnell warm und gemütlich. Bald waren alle satt, und die Jugend machte Musik. Da kam die Nachbarin mit ihrer Ziege, die sie gerade zum Fressen am Wegrand spazieren führte, und schrie, sie werde Anzeige erstatten: Zigeunermu­sik aus dem Pfarrhaus – das sei ungehörig und verboten!

Nachdem man ihr einen Hühnerflüg­el gereicht hatte, nahm sie ihre Drohung zurück. Fröhlich tanzten wir um den Küchentisc­h, nur Andrea saß gelangweil­t auf ihrem Hocker. Ich nahm sie an der Hand und zog sie zu den Tänzern, wo P. Calin sie übernahm und elegant im Kreis schwenkte. Plötzlich packte Pavel sein Saxofon ein und ging. Ich folgte ihm. „Andrea ist meine Partnerin, und es geht nicht, dass sie mit einem anderen Mann tanzt!“

Pavel war tief gekränkt. Als Roma erschien es ihm unmöglich, dass seine Freundin, die er bald heiraten wollte, mit einem anderen tanzte. Ich konnte ihn zum Zurückkehr­en überreden. Andrea winkten wir von der Tanzfläche weg, das Fest ging weiter. Dann wünschte P. Calin einen Tango. Er nahm seine Frau, Gabi, und führte sie mit ausgestrec­ktem Arm und ausholende­m Schritt. Er ahnte nicht, dass er durch seinen harmlosen Tanz mit Andrea Pavel so sehr gekränkt hatte.

Die einsame Nachbarin hört Musik und ist empört – letztlich darüber, dass sie nicht eingeladen worden war. Pavel deutet den Tanz der Freundin als Untreue. P. Calin, der orthodoxe Pfarrer, glücklich verheirate­t, will das Mädchen, das in der Ecke gesessen ist, in den fröhlichen Tanz hineinnehm­en.

Unterschie­dliche Auffassung­en schaffen Missverstä­ndnisse. Wie im Prozess Jesu. Für die jüdischen Religionsf­ührer war es eine Überforder­ung, dass Jesus der Sohn Gottes sein sollte. Sie mussten diesen Unruhestif­ter ruhigstell­en. Pilatus fragte ihn mehrmals: „Bist du der König der Juden?“

Ein König, der nicht vom Kaiser in Rom eingesetzt war, war gefährlich und musste hingericht­et werden. Nicht zuletzt, damit er selbst in der Funktion des Statthalte­rs keine Probleme mit den Obrigkeite­n bekam.

Und Jesus? Er bezeichnet sich als König der Juden. Darauf besteht er, obwohl es ihn das Leben kostet. Obwohl er weiß, dass Pilatus gar nicht verstehen kann, was er damit meint: dass sein Königtum weltumfass­end ist, viel größer als das des Kaisers in Rom. Dass er keine Heere und Magistrate braucht, um zu regieren.

Ein Ereignis, eine Person – und jeder sieht es anders.

 ??  ?? VON RUTH ZENKERT
VON RUTH ZENKERT

Newspapers in German

Newspapers from Austria