Die Seestadt probt die Energiezukunft
Im Stadtentwicklungsgebiet Aspern lernen Forscher, wie sich Strom und Wärme effizienter nutzen lassen. Die Aspern Smart City Research wertet große Datenmengen aus und gibt den Nutzern Handlungsempfehlungen.
Wer derzeit an der U-BahnEndhaltestelle Seestadt die Stiegen herunterkommt, erkennt auf den ersten Blick: gar nichts. Ein mehrere Hundert Meter langer Zaun aus Holzplatten kanalisiert den Blick auf die trostlose Betonwüste unterhalb der U-Bahn-Gleise. Aber schon nach kurzem Fußmarsch und dem ersten Rechtsschwenk wird es besser. Baustellencharakter hat hier zwar alles. Aber irgendwie von der guten, inspirierenden Art. Man spürt bei jedem Schritt, dass mit der Seestadt Aspern etwas Visionäres entstehen will. Angefangen beim bereits sprießenden Straßenbegleitgrün, das man so noch nicht gesehen zu haben glaubt, über Leihstationen für elektrobetriebene Lastenräder bis zu den spielplatzartigen Erlebnisinnenhöfen der Wohnblöcke.
Bewohner machen gern mit
Das wahrlich Revolutionäre bleibt dem umherschweifenden Blick allerdings verborgen. Die intelligente Stadt der Zukunft wird vieles verändern, auch wenn die entscheidenden Elemente rein äußerlich aus langweiligen Kästchen, Sensoren, Apps oder mit Plastik umwickeltem Kupferdraht bestehen. Wer ihrem Wesenskern zu Leibe rücken möchte, der kehrt am besten um. Auf der anderen Seite der U-Bahn, Seestadtstraße 27, gewährt der Ausstellungsraum der Forschungsgesellschaft Aspern Smart City Research (ASCR) einen Überblick.
Geschäftsführer Reinhard Brehmer hilft beim Verstehen. Vor einer weißen Stadtteilplastik auf Tischhöhe deutet er auf die Modelle der teilnehmenden Gebäude: ein Studentenheim, eine Schule und ein Wohnbau mit über 200 Wohnungen. Mehr als die Hälfte der Bewohner machen freiwillig mit. „Derzeit werden rund 1,2 Millionen Daten pro 24 Stunden erhoben und verarbeitet“, erläutert Brehmer.
Eine Schautafel daneben skizziert zusammenfassend, warum dies geschieht. Es geht um die Frage, wie Gebäude, deren Bewohner sowie das Stromnetz mithilfe von Computertechnik so zusammenarbeiten können, dass Erzeugung, Verteilung, Speicherung und Verbrauch regenerativer Energien möglichst effizienzsteigernd organisiert werden können. Wesentlich ist dabei die dezentrale Einspeisung, sprich, dass Gebäude nicht nur Strom verbrauchen, sondern mittels Fotovoltaik, Wärmepum- pen, Erdspeichern und anderem auch Energie bereitstellen.
Die gewaltigen Datenmengen von mehreren Tausend Messpunkten werden zusammengetragen, um Stromverbrauch, Raumtemperatur, Netzspannung, aber auch Wetter- und andere Daten miteinander verbinden und analysieren zu können. Statistikexperten suchen dabei nach verborgenen Wechselbeziehungen. Data Discovery, also Datenerkenntnis, heißt das auf Neudeutsch.
„Man findet Zusammenhänge, nach denen man vorher nicht einmal gesucht hätte“, sagt Brehmer. Er zeigt auf eine von einem Statistikprogramm grafisch aufbereitete Datenwolke, die falsch verdrahtete Messpunkte im Netz auf einen Blick entlarvt. Früher hätte man bei der Fehlersuche jeden Messpunkt einzeln überprüfen müssen.
Beobachten, was es bringt
Derzeit sei man in der Grundmessungsphase, in der ein Jahr lang Daten gesammelt und analysiert werden. Rund 100 Wissenschaftler versuchen, Klarheit in ein komplexes und variantenreiches System zu bringen. Zehn davon direkt für die ASCR, die anderen indirekt bei den Projektpartnern wie Wien Energie, Wiener Netze oder Siemens sowie der TU Wien und anderen. Vor der nächsten Heizperiode will man dann den gewissermaßen im Forschungslabor lebenden Bewohnern Handlungsvor- schläge zur Optimierung ihres Energieverbrauchs an die Hand geben. Dann wird ein weiteres Jahr beobachtet, was es bringt.
Im Konkreten geht es beispielsweise um die Bedienung der Fußbodenheizung. Diese reagiere laut Brehmer auf Änderungen mit einer gewissen Reaktionszeit. „Wenn ich zwölf Stunden nicht zu Hause bin, wozu die ganze Zeit durchheizen? Drehe ich aber erst in der Früh beim Aufstehen ab, verschwende ich schon eine Menge des Einsparpotenzials.“
Die allgemeine Erkenntnissuche reicht aber viel weiter: Reagiert die Raumtemperatur in einer Wohnung an der Südfassade genauso auf die Einstellungsänderung wie jene im Innenhof oder an der Nordwand? Was tun, wenn zu bestimmten Zeiten viele Nutzer aufoder abdrehen? Es geht darum, Bewohnergewohnheiten zu identifizieren und die gewonnenen Erkenntnisse zu verwerten. Zum Beispiel in Form von Tarifmodellen, die zum zeituhrgesteuerten Anwerfen der Waschmaschine zur Mittagszeit animieren, weil dann gerade viel Solarstrom vom eigenen Dach kommt. In der Stadt der Zukunft sollen sich Datenverarbeitungssysteme, Netz und Nutzer sowie jedes Gebäude für sich smart verhalten und von selbst dazulernen. Auch vorausschauen sollen sie, sagt Brehmer.
„Wenn ich weiß, es kommt eine Schlechtwetterfront, dann kann ich die Seite des Gebäudes mehr aufheizen, von der der kalte Wind kommt.“Derzeit müsse man noch einen ganzen Block so weit aufheizen, dass das kälteste Eck warm genug ist.
Alle Szenarien kalkulieren
Genauso müsse das System lernen zu entscheiden, ob überschüssig vorhandene Energie in einen Speicher fließen oder verkauft werden soll. Dies hängt mit dem zu erwartenden Bedarf oder dem Strompreis am Tag darauf zusammen, was wiederum mit der Frage zu tun hat, ob es dann Mittwoch oder Samstag ist. Oder ob vielleicht alle fernsehen werden, weil Österreich in einem Fußball-EM-Finale steht. Forschung muss alle Szenarien durchkalkulieren. Auch die rein theoretischen.