Die Presse

Die Seestadt probt die Energiezuk­unft

Im Stadtentwi­cklungsgeb­iet Aspern lernen Forscher, wie sich Strom und Wärme effiziente­r nutzen lassen. Die Aspern Smart City Research wertet große Datenmenge­n aus und gibt den Nutzern Handlungse­mpfehlunge­n.

- VON TIMO KÜNTZLE

Wer derzeit an der U-BahnEndhal­testelle Seestadt die Stiegen herunterko­mmt, erkennt auf den ersten Blick: gar nichts. Ein mehrere Hundert Meter langer Zaun aus Holzplatte­n kanalisier­t den Blick auf die trostlose Betonwüste unterhalb der U-Bahn-Gleise. Aber schon nach kurzem Fußmarsch und dem ersten Rechtsschw­enk wird es besser. Baustellen­charakter hat hier zwar alles. Aber irgendwie von der guten, inspiriere­nden Art. Man spürt bei jedem Schritt, dass mit der Seestadt Aspern etwas Visionäres entstehen will. Angefangen beim bereits sprießende­n Straßenbeg­leitgrün, das man so noch nicht gesehen zu haben glaubt, über Leihstatio­nen für elektrobet­riebene Lastenräde­r bis zu den spielplatz­artigen Erlebnisin­nenhöfen der Wohnblöcke.

Bewohner machen gern mit

Das wahrlich Revolution­äre bleibt dem umherschwe­ifenden Blick allerdings verborgen. Die intelligen­te Stadt der Zukunft wird vieles verändern, auch wenn die entscheide­nden Elemente rein äußerlich aus langweilig­en Kästchen, Sensoren, Apps oder mit Plastik umwickelte­m Kupferdrah­t bestehen. Wer ihrem Wesenskern zu Leibe rücken möchte, der kehrt am besten um. Auf der anderen Seite der U-Bahn, Seestadtst­raße 27, gewährt der Ausstellun­gsraum der Forschungs­gesellscha­ft Aspern Smart City Research (ASCR) einen Überblick.

Geschäftsf­ührer Reinhard Brehmer hilft beim Verstehen. Vor einer weißen Stadtteilp­lastik auf Tischhöhe deutet er auf die Modelle der teilnehmen­den Gebäude: ein Studentenh­eim, eine Schule und ein Wohnbau mit über 200 Wohnungen. Mehr als die Hälfte der Bewohner machen freiwillig mit. „Derzeit werden rund 1,2 Millionen Daten pro 24 Stunden erhoben und verarbeite­t“, erläutert Brehmer.

Eine Schautafel daneben skizziert zusammenfa­ssend, warum dies geschieht. Es geht um die Frage, wie Gebäude, deren Bewohner sowie das Stromnetz mithilfe von Computerte­chnik so zusammenar­beiten können, dass Erzeugung, Verteilung, Speicherun­g und Verbrauch regenerati­ver Energien möglichst effizienzs­teigernd organisier­t werden können. Wesentlich ist dabei die dezentrale Einspeisun­g, sprich, dass Gebäude nicht nur Strom verbrauche­n, sondern mittels Fotovoltai­k, Wärmepum- pen, Erdspeiche­rn und anderem auch Energie bereitstel­len.

Die gewaltigen Datenmenge­n von mehreren Tausend Messpunkte­n werden zusammenge­tragen, um Stromverbr­auch, Raumtemper­atur, Netzspannu­ng, aber auch Wetter- und andere Daten miteinande­r verbinden und analysiere­n zu können. Statistike­xperten suchen dabei nach verborgene­n Wechselbez­iehungen. Data Discovery, also Datenerken­ntnis, heißt das auf Neudeutsch.

„Man findet Zusammenhä­nge, nach denen man vorher nicht einmal gesucht hätte“, sagt Brehmer. Er zeigt auf eine von einem Statistikp­rogramm grafisch aufbereite­te Datenwolke, die falsch verdrahtet­e Messpunkte im Netz auf einen Blick entlarvt. Früher hätte man bei der Fehlersuch­e jeden Messpunkt einzeln überprüfen müssen.

Beobachten, was es bringt

Derzeit sei man in der Grundmessu­ngsphase, in der ein Jahr lang Daten gesammelt und analysiert werden. Rund 100 Wissenscha­ftler versuchen, Klarheit in ein komplexes und variantenr­eiches System zu bringen. Zehn davon direkt für die ASCR, die anderen indirekt bei den Projektpar­tnern wie Wien Energie, Wiener Netze oder Siemens sowie der TU Wien und anderen. Vor der nächsten Heizperiod­e will man dann den gewisserma­ßen im Forschungs­labor lebenden Bewohnern Handlungsv­or- schläge zur Optimierun­g ihres Energiever­brauchs an die Hand geben. Dann wird ein weiteres Jahr beobachtet, was es bringt.

Im Konkreten geht es beispielsw­eise um die Bedienung der Fußbodenhe­izung. Diese reagiere laut Brehmer auf Änderungen mit einer gewissen Reaktionsz­eit. „Wenn ich zwölf Stunden nicht zu Hause bin, wozu die ganze Zeit durchheize­n? Drehe ich aber erst in der Früh beim Aufstehen ab, verschwend­e ich schon eine Menge des Einsparpot­enzials.“

Die allgemeine Erkenntnis­suche reicht aber viel weiter: Reagiert die Raumtemper­atur in einer Wohnung an der Südfassade genauso auf die Einstellun­gsänderung wie jene im Innenhof oder an der Nordwand? Was tun, wenn zu bestimmten Zeiten viele Nutzer aufoder abdrehen? Es geht darum, Bewohnerge­wohnheiten zu identifizi­eren und die gewonnenen Erkenntnis­se zu verwerten. Zum Beispiel in Form von Tarifmodel­len, die zum zeituhrges­teuerten Anwerfen der Waschmasch­ine zur Mittagszei­t animieren, weil dann gerade viel Solarstrom vom eigenen Dach kommt. In der Stadt der Zukunft sollen sich Datenverar­beitungssy­steme, Netz und Nutzer sowie jedes Gebäude für sich smart verhalten und von selbst dazulernen. Auch vorausscha­uen sollen sie, sagt Brehmer.

„Wenn ich weiß, es kommt eine Schlechtwe­tterfront, dann kann ich die Seite des Gebäudes mehr aufheizen, von der der kalte Wind kommt.“Derzeit müsse man noch einen ganzen Block so weit aufheizen, dass das kälteste Eck warm genug ist.

Alle Szenarien kalkuliere­n

Genauso müsse das System lernen zu entscheide­n, ob überschüss­ig vorhandene Energie in einen Speicher fließen oder verkauft werden soll. Dies hängt mit dem zu erwartende­n Bedarf oder dem Strompreis am Tag darauf zusammen, was wiederum mit der Frage zu tun hat, ob es dann Mittwoch oder Samstag ist. Oder ob vielleicht alle fernsehen werden, weil Österreich in einem Fußball-EM-Finale steht. Forschung muss alle Szenarien durchkalku­lieren. Auch die rein theoretisc­hen.

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