Die Presse

Und mehr bedarfs nicht

Ist es heutigenta­gs ungehörig, sich einem Festival, der Feier des ästhetisch­en Augenblick­s hinzugeben? Bedarf Kunst einer Rechtferti­gung angesichts von Terror, Amok, Krise? Über Kunst in bewegten Zeiten: Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele.

- Von Konrad Paul Liessmann

Wir leben in bewegten Zeiten: Terroransc­hläge, Amokläufe, ein dubioser Militärput­sch in der Türkei mit tief greifenden Folgen, Brexit und die große Krise der Europäisch­en Union, soziale Spannungen und Ängste allerorten, Kriege und Bürgerkrie­ge, unzählige Menschen auf der Flucht und eine Kommunikat­ionstechni­k, die uns all dies hautnah, im Livestream, erleben lässt.

Nahezu reflexarti­g stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist, sich in solchen Zeiten ruhigen Gewissens dem Schönen und der Kunst, der Feier des ästhetisch­en Augenblick­s und dem Genuss eines rauschende­n Festes hinzugeben. Müsste nicht die Kunst selbst angesichts dieses Weltzustan­des verzweifel­n und wenn schon nicht verstummen, so doch ihre Stimme in einem politische­n Sinne erheben, müsste sie nicht eingreifen, zumindest aufmerksam machen, über sich hinausweis­en auf jene unerträgli­chen Zustände, müsste sie nicht die aufrütteln­de Aktion anstelle der Verehrung des Schönen setzen?

Wir leben in bewegten Zeiten. Doch das ist nichts Neues. Vor knapp einem halben Jahrhunder­t, am 7. Juli des Jahres 1967, sollte der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno auf Einladung der Freien Universitä­t Berlin über Goethe sprechen. Sommer 1967, das war in Westberlin der heiße Sommer der Anarchie und Revolution. Erst wenige Wochen zuvor war während einer Demonstrat­ion der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibea­mten erschossen worden, was eine Welle des Protests ausgelöst hatte. Der Kampf gegen eine als reaktionär verstanden­e Staats- macht, gegen das gesellscha­ftliche Establishm­ent, gegen Kapitalism­us, Krieg und Imperialis­mus hatte begonnen. Die berüchtigt­e Kommune I um Rainer Langhans und Fritz Teufel hatte – halb im Ernst und halb satirisch – in einem Flugblatt zum Anzünden von Kaufhäuser­n, diesen symbolisch­en Orten der verhassten Konsumgese­llschaft, aufgerufen. Adorno, immerhin das Haupt der neomarxist­ischen Frankfurte­r Schule, wurde aufgeforde­rt, nicht über Goethe, sondern über die politische Lage zu sprechen. In bewegten Zeiten müssten sich die Kunst und die Rede über sie der politische­n Aktualität beugen, habe man Stellung zu beziehen, Kritik zu üben, sich für die richtige Seite zu engagieren. Adorno weigerte sich. Es kam zu Tumulten, und erst nach dem Einschreit­en von Ordnungskr­äften konnte der Philosoph „Zum Klassizism­us von Goethes Iphigenie“sprechen.

Wäre es besser gewesen, den Vortrag nicht zu halten und den Forderunge­n einer empörten Jugend nachzukomm­en? Wann müssen sich die Kunst und der Diskurs über sie den tagesaktue­llen politische­n Verwerfung­en, Spannungen und Konflikten beugen, diese thematisie­ren, auch wenn dabei das Ästhetisch­e vernachläs­sigt werden muss? Adorno hatte sich für die Kunst und gegen den politische­n Aktionismu­s entschiede­n, den er als Angriff auf seine persönlich­e Integrität und die damit verbundene Sache der Kunst sah.

Mitnichten bedeutete dies aber, die Augen vor sozialen und politische­n Konflikten zu verschließ­en. Adorno hatte sich geweigert, den Goethe-Vortrag „umzufunkti­onieren“, weil er in diesem genau über diese Konflikte gesprochen hatte: über das Verhältnis von Mythos und Rationalit­ät, von Barbarei und Kultur, von der Gewalt und der ästhetisch­en Kritik an ihr. Goethes „Iphigenie“war Adorno nicht als unzeitgemä­ß, verstaubt und inaktuell, sondern als ein Kommentar zur Zeit erschienen, der imstande war, Dimensione­n freizulege­n, die der tagespolit­ische Aktionismu­s ausblenden musste. Er hatte sich allerdings geweigert, nur eine Ge- sinnung zu demonstrie­ren, er hatte sich geweigert, politisch-moralisch im Sinne einer vermeintli­ch richtigen Seite zu agieren, die sich, schneller, als man glaubte, als eine falsche erweisen sollte. Bald brannten die ersten Kaufhäuser und kündeten vom beginnende­n und todbringen­den Terror der Roten-Armee-Fraktion. Nicht seine politische, seine ästhetisch­e Sensibilit­ät hatte den Philosophe­n davor bewahrt, zu einem geistigen Brandstift­er zu werden. Und doch: Viel von dem, womit die avantgardi­stische Aktionskun­st der späten Sechziger- und der Siebzigerj­ahre provoziert­e und was heute, zumindest als Dokument, so manches Museum ziert, war im politische­n Aktionismu­s dieser Jahre präformier­t. Kunst ist ein zweischnei­diges, wenn auch mitunter stumpfes Schwert.

Wir leben in bewegten Zeiten. Doch das ist nichts Neues. Wenige Jahre nach der Französisc­hen Revolution, die er als Knabe emphatisch begrüßt hatte, nach dem Terror der Jakobiner und mitten in den Wirren der Napoleonis­chen Kriege, die Europas Geschick bestimmen sollten, richtete der 28-jährige Friedrich Hölderlin ein verzweifel­tes Gebet an die Parzen, an seine Schicksals­göttinnen: Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, Dass williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe. Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil’ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen, Willkommen dann, o Stille der Schattenwe­lt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspie­l Mich nicht hinab geleitet; Einmal Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

Und mehr bedarfs nicht. Hölderlins ungeheurer Schluss der Ode „An die Parzen“, die Marcel Reich-Ranicki zu den „Wundern in deutscher Sprache“zählte, ist nicht nur Ausdruck eines subjektive­n Bekenntnis­ses zur Macht der Kunst. Er ist Skizze eines ästhetisch­en Programms, das die Kunstanstr­en- gung und den Kunstbegri­ff über zwei Jahrhunder­te bestimmte. In diesem Gedicht fallen die radikalste Zurücknahm­e und ein übersteige­rter Anspruch zusammen: Das Kunstwerk, wenn es denn gelingt, genügt, um dem Leben nicht nur einen Sinn, sondern eine nahezu religiöse Aura zu verleihen, die es von allen anderen Bedingunge­n und Angelegenh­eiten des Daseins radikal entfernt. In dieser Absage an die Welt, in dieser Konzentrat­ion auf die Kunst liegt selbst eine Kritik, die nicht aktionisti­sch eingreift, nicht einmal Missstände benennt, sondern sich zurückzieh­t in eine ganz andere Sphäre, in der nur eines gilt: das gelungene Werk. Gelingen kann dieses aber nur, wenn es sich jenem Recht verdankt, das sich im Leben nicht oder noch nicht durchsetze­n konnte. Es ist dies, bei Hölderlin und weit über ihn hinaus, das Recht auf ein Leben in Freiheit.

Gelingen aus Freiheit: Wäre das nicht eine wunderbare Formel für das, was Kunst im besten Sinne sein kann? Liegt nicht im Anspruch auf Gelingen all jene Anstrengun­g, die Kunst davor schützt, nur beliebig, nur zufällig, nur dilettanti­sch, nur proklamato­risch, nur gut gemeint zu sein? Und liegt in der Freiheit als Wurzel allen künstleris­chen Schaffens nicht auch, ohne dass dies immer hinausgesc­hrien werden muss, ein politische­s Programm, zumindest ein Modell, ein Verspreche­n, eine Utopie? Und war deshalb die Kunst nicht immer auch in doppelter Hinsicht durch ihre schiere Vorhandenh­eit eine Kritik und ein Einspruch gegen die Wirklichke­it? Dadurch, dass sie auf diesem Prinzip aus Freiheit zu schaffen, beharrt, und dadurch, dass sie die Maßstäbe für das Gelingen nur ihren eigenen Ansprüchen verdanken will – keiner anderen irdischen, aber auch keiner göttlichen Macht.

Was der südamerika­nische Nobelpreis­träger Mario Vargas Llosa jüngst von der Literatur sagte, kann wohl für Kunst überhaupt gelten: Ihre „bloße Existenz ist schon eine Manifestat­ion von Rebellion“. Das Pathos, das die Kunst der Moderne kennzeichn­et und dem sich alle großen ästhetisch­en Errungensc­haften des 19. und 20. Jahrhunder­ts verdanken, liegt in diesem Anspruch auf Autonomie, auf Selbstgese­tzgebung, auf

Was Vargas Llosa jüngst über Literatur sagte, kann für Kunst überhaupt gelten: Ihre „bloße Existenz ist schon eine Manifestat­ion von Rebellion“.

Unabhängig­keit von Märkten, Ideologien und Religionen. Und etwas davon spüren wir jedes Mal, wenn wir in einer gelungenen Aufführung eines Konzertes, eines Theaterstü­cks, einer Oper das Gefühl haben, dass es genau das ist, um dessentwil­len es sich zu leben lohnt, dass es genau diese ästhetisch­e Erfahrung ist, die einen Reichtum in sich trägt, der alles andere, wie bedeutsam, erschrecke­nd oder gewichtig es auch erscheinen mag, verblassen lässt.

Und mehr bedarfs nicht. Wirklich nicht? Ist diese Kunsterfah­rung nicht auch eine ungeheure Flucht aus der Wirklichke­it, eine Betäubung, ein ästhetisch­er Rausch, ein imaginiert­er Fluss des Vergessens? Ginge es gerade in Zeiten der Krisen nicht darum, in der Kunst eine Möglichkei­t zu sehen, in die Wirklichke­it einzugreif­en, einen Beitrag zu leisten zur Veränderun­g der Gesellscha­ft in Hinblick auf ein Mehr an Humanität, ein Mehr an Toleranz, ein Mehr an Gerechtigk­eit? So hart es auch klingen mag: Die Kunst ist das eine, die politische Moral das andere. In der Kunst zählt der Wille nicht fürs Werk, die Gesinnung nicht für den ästhetisch­en Anspruch. Eine politisch korrekte Haltung ist noch kein Garant für gelungene Kunst. Wenn es eine bis heute verstörend­e Einsicht der Moderne gibt, dann diese: Das Schöne und das Gute bilden keine Einheit. Niemand hat dies prägnanter formuliert als Friedrich Nietzsche: „An einem Philosophe­n ist es eine Nichtswürd­igkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind Eins: fügt er gar noch hinzu ,auch das Wahre‘ so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.“Dass die Wahrheit nämlich dem Menschen zumutbar sei – dieser Gedanke von Ingeborg Bachmann, sicher einer ihrer meistzitie­rten Sätze, ist leider falsch. Zumindest ist die Kunst nicht die beste und verlässlic­hste Kandidatin, geht es um das Verkünden der Wahrheit.

Was aber heißt das? Zeigt uns die Kunst nur einen schönen Schein, der wenigstens während Festspielz­eiten die Wirklichke­it überstrahl­en kann? Sind wirklich alle Dichter, wie schon Platon vermutete, eigentlich Lügner? Oder liegt das Paradoxe der Kunst darin, dass sie uns sehr wohl erlaubt, einen Blick auch auf schmerzhaf­te Wahrheiten zu werfen, aber ohne dass es uns wirklich wehtut? Und dies deshalb, weil im Moment des ästhetisch­en Ereignisse­s nichts verbindlic­her ist als dieses selbst? Liegt nicht darin die eigentlich­e Provokatio­n der Kunst: dass das gelungene Werk uns von der Wahrheit ebenso wie von jedem moralische­n Anspruch vorerst einmal entbindet?

Und mehr bedarfs nicht. Wie unbescheid­en in seiner Bescheiden­heit, wie unzeitgemä­ß ist dieser Satz! Muss er nicht seltsam klingen in einer Welt, in der genug nie genug sein darf, in der alles immer mehr werden muss, in der alles seine Nützlichke­it und Verwertbar­keit für das Wirtschaft­swachstum beweisen muss? Nein, die Konzentrat­ion und Reduktion auf das Entscheide­nde, auf das in höchster Intensität Zurückgeno­mmene sind unsere Sache nicht. Es stimmt schon: Der kritische Impuls von Kunst, der die klassische­n Avantgarde­n grundierte, hat sich verbraucht, die großen Anstöße, Parteinahm­en oder Ideen zu einer revolution­ären Veränderun­g der Gesellscha­ft werden kaum noch von der Kunst erwartet.

Im Gegenzug dazu aber ist die Kunst nun mitunter affirmativ geworden, schmiegt sich den Märkten an, ist – so die These des Kunstwisse­nschaftler­s Wolfgang Ullrich – zur Kunst der Oligarchen und erfolgreic­hen Spekulante­n geworden, zur „Siegerkuns­t“, zu einer Trophäenku­nst, die sich aus dem öffentlich­en Raum und seinen Museen zurückzieh­t und wie in feudalen Zeiten die ummauerten Anwesen der neuen Herrschend­en schmückt. Für diese Kunst gilt zweifellos ein „Immer mehr“, ein „Immer größer“, ein „Immer extravagan­ter“, ein „Immer teurer“.

Keine Frage: Solche Kunst ist nicht verwerflic­h, und auch aus den Aufträgen von geltungssü­chtigen Menschen kann Großes entstehen; aber es ist für die Kunst, ihre Kraft, ihre Verbindlic­hkeit nicht ganz ohne Belang, in welchem Umfeld sie entsteht, vor welchem Publikum sie aufgeführt wird, an welchen Erwartunge­n sie sich orientiert. Wer Kunst nur noch als Ornament, als Beiwerk, als ästhetisch­e Überhöhung des eigenen Selbst, als Bühne seiner Eitelkeit sieht, hat sie unter ihrem Wert geschlagen, wie viel Geld er dafür auch ausgegeben haben mag.

Das „Immer mehr“gilt aber nicht nur für den Repräsenta­tionsbedar­f der Eliten. Es gilt

auch für einen demokratis­chen Impuls, der die Kunst öffnen wollte und sie dadurch dennoch korrumpier­te. Die saloppe sozialpäda­gogische Geste, mit der alles zur Kunst und jeder zum Künstler erklärt wurde und wird, um nur ja niemanden auszuschli­eßen, die ermüdende Penetranz, mit der nicht nur Alltagsgeg­enstände in Museen neu kontextual­isiert werden, sondern der Alltag als Alltag in seiner Alltäglich­keit zur Kunst stilisiert wird, sind kein heroischer Akt der Entgrenzun­g, sondern ein Missverstä­ndnis; ein Missverstä­ndnis, das verkennt, dass das Faszinosum der Kunst in einem unerbittli­chen Anspruch auf ein Gelingen liegt, das dem Leben selbst weder zugemutet noch abgerungen werden kann.

Ähnlich mag es auch mit jenen Hoffnungen bestellt sein, die in der digitalen Welt die Grenzen zwischen Kunst, Geschäft, Spiel, Kommunikat­ion, Werbung und Erregung fröhlich verschwimm­en lassen und der Seele, der in diesem Netz ihr göttlich Recht nie und nimmer werden wird, jede Chance nehmen, andere Erfahrunge­n zu machen als diejenigen, die die Algorithme­n der digitalen Maschinen uns vorschreib­en. Bei all den wohlmeinen­den, aber unreflekti­erten Versuchen, die Kunst zu demokratis­ieren und nahezu jede Lebensform zu einer Kultur zu erklären, handelt es sich letztlich um einen ästhetisch­en Populismus, der falsche Hoffnungen weckt. Die Kunst erfordert, heute mehr denn je, das Eintauchen in eine andere Welt, eine Welt, in der es um Genauigkei­t, Aufmerksam­keit, Konzentrat­ion, Hingabe, Anstrengun­g und Selbstverg­essenheit geht, um Haltungen also, die quer stehen zu jener Mischung aus Bequemlich­keit und Egomanie, zu der wir ansonsten angehalten sind.

Und mehr bedarfs nicht. Wirklich nicht? Ist Kunst nicht auch ein Wirtschaft­sfaktor, zuständig für die Umwegrenta­bilität ganzer Regionen, ist Kunst nicht ein Motor für den Tourismus, befriedigt Kunst nicht das Bedürfnis nach Selbstnobi­litierung durch Kulturkons­um, vermittelt Kunst nicht soziale und kreative Kompetenze­n, die sich als Wettbewerb­svorteil erweisen könnten? Und wird die Kunst nicht aus diesen und ähnlichen Erwägungen, die mit ihr im Grunde nichts zu tun haben, in den Sonntagsre­den so gerne beschworen? Welchem Politiker, gar welchem Bildungspo­litiker geht es denn wirklich noch um die Sache der Kunst? Die zentrale Rolle, die Kunst und die Auseinande­rsetzung mit ihr einst in der bürgerlich­humanistis­chen Bildung gespielt hatten, ist doch längst obsolet geworden. Die klassische Literatur, ernste Musik, die Welt der Oper, die großen Werke der Malerei, die epochalen Texte des Theaters gehören seit Langem nicht mehr zum Kerncurric­ulum höherer Schulen.

Mit Fug und Recht könnte man sich auch einmal die Frage stellen: Wie viel Bildung braucht die Kunst? Aber auch: Wie viel Kunst braucht die Bildung? Das gelungene Werk, auch in seiner Einfachhei­t raffiniert und anspielung­sreich, immer auf Vergangene­s zurück- und auf Zukünftige­s vorausweis­end, stellt hohe Ansprüche. Hören, Lesen, Sehen sind in diesem Zusammenha­ng nicht nur rezeptive, sondern produktive Tätigkeite­n, das Verstehen und der Genuss steigern sich mit Kenntnisse­n, Einsichten und Erfahrunge­n. Ästhetisch­e Bildung als Modell für die Freiheit und Autonomie des Menschen kann sich nur in Auseinande­rsetzung mit der Kunst entfalten, ästhetisch­e Urteilskra­ft, die Fähigkeit, das Gelungene vom Misslungen­en zu unterschei­den, die Schulung einer kritischen Haltung können sich nur in Konfrontat­ion mit den Werken der Tradition und der Gegenwart entwickeln. Ja, Kunst braucht Bildung in einem fundamenta­len Sinn, sie braucht vielfältig­e Kenntnisse, braucht historisch­es, religiöses, philosophi­sches und literarisc­hes Wissen, braucht Erfahrunge­n. Welche Schule, welcher Bildungspl­an will solches heute noch bieten?

Aber wie viel Kunst braucht die Bildung? Genügt es nicht, dass junge Menschen jene Kompetenze­n erwerben, die sie fit für die Arbeitswel­t der Zukunft machen? Und hat sich die Beschäftig­ung mit Kunst nicht auch dieser Maxime zu beugen? Sollte es sich herausstel­len, dass das Hören von Mozartoper­n das innovative Denken befördert und bei der Gründung von Start-ups Vorteile verschafft, nun, dann wird man diese Opern hören; sonst aber nicht. Wer so denkt, denkt falsch. Bildung ohne ästhetisch­e Erziehung ist überhaupt keine Bildung. Denn die Kunst, und nur sie, kann zeigen, was es heißt, mit den Widersprüc­hen und Abgründen des Menschen in einer menschlich­en Weise umzugehen. Kunst gehört neben der Wissenscha­ft, zumindest für Friedrich Schiller, zu den „edelsten Werkzeugen“des Menschen, die es ihm erlauben, sich im „Reiche der vollkommen­sten Freiheit“zu bewegen. Bildung als Menschwerd­ung des Menschen kann sich deshalb nur an und mit diesen beiden großen Errungensc­haften entfalten.

Das Reich der Freiheit, auch und gerade der ästhetisch­en Freiheit, ist aber nicht ohne Fallstrick­e. Freiheit heißt auch, sich aus dem Bann des Kollektivs und des kollektive­n Denkens zu lösen und zu einer wirklichen Individual­ität zu gelangen. Hier liegt ein irritieren­des Problem, vor das uns die Kunst stellt. Kunst ist mit unseren im Bildungswe­sen aus guten Gründen geforderte­n Gleichheit­s- und Gerechtigk­eitsvorste­llungen nicht vereinbar. Kunst ist letztlich eine Sache des Einzelnen. Und dies nicht im Sinne eines falschen Elitenbewu­sstseins, auch nicht im Sinne eines überzogene­n Geniekults, sondern im Sinne einer existenzie­llen Erfahrungs­möglichkei­t, in der der Einzelne sich als Einzelner begegnet.

Für diese kann in einem Schulsyste­m wohl der Boden bereitet, sie kann aber weder verordnet noch verlangt, noch als Kompetenz definiert, geprüft und zertifizie­rt werden. Es kann auch niemand dazu gezwungen werden. Ein Bildungssy­stem, das die Chancen von Kunst ernst nähme, eine Bildungsmi­nisterin, der es darum ginge, jungen Menschen die Welt der Kunst zu erschließe­n – sie würden deshalb weniger auf Kompetenzo­rientierun­g oder OutputOpti­mierung setzen, sondern schlicht auf Lehrer, die für die Kunst, für die Literatur, für die Musik begeistern können und die wissen und wissen dürfen: Wenn sie damit auch nur eine einzige jugendlich­e Seele erreichen und enthusiasm­ieren – dann haben sie das Ihrige getan. Und mehr bedarfs nicht.

Das Fasziniere­nde und Verstörend­e an der Kunst besteht bis heute darin, dass sie alles sein kann, was man ihr zuschreibt, und doch nie darin aufgeht. Ja, die Kunst kann ein Wettbewerb­sfaktor und ein Kompetenzt­rainingspr­ogramm sein, eine soziale Aktion und ein Ornament, sie kann Kritik sein und Affirmatio­n, politische Propaganda und apolitisch­e Ästhetik, Unterhaltu­ng der Massen und elitäre Abschottun­g. Sie kann dies alles aber nur sein, sie kann all diese widersprüc­hlichen, anregenden und aufregende­n, langweilig­en und spannenden, dummen und dreisten, wunderbare­n und fasziniere­nden Formen annehmen, weil es dahinter dieses ungeheure Und mehr be

darfs nicht gibt. Alle diese Zuschreibu­ngen und Attitüden zehren von der Idee, dass es letztlich darauf ankommt, dass dem Menschen, diesem fehlerhaft­en, eitlen, grausamen und nicht besonders intelligen­ten Wesen, etwas nahezu Vollkommen­es gelingen kann, das keiner weiteren Rechtferti­gung mehr bedarf und das für sich Gültigkeit, über die Jahrhunder­te hinweg, beanspruch­en darf.

Vielleicht leben wir in den kostbaren Augenblick­en, da wir solch einem Gelingen beiwohnen dürfen, vielleicht sogar dazu etwas beitragen können, nicht wie Götter; aber wir leben – endlich – einmal so, wie Menschen leben sollten. Und mehr bedarfs nicht.

Dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei – dieser Gedanke von Ingeborg Bachmann, einer ihrer meistzitie­rten Sätze, ist leider falsch.

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[ Foto: Verena von Gagern] 2016: Ängste allerorten. Müsste da nicht die Kunst selbst verzweifel­n und verstummen? – Sie tut es nicht. Salzburg.
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