Die Presse

Der Tolstoi des Punks

Zwischen den gesellscha­ftlichen Polen Extremreic­htum und (Punk-)Subkultur: In „City on Fire“zeichnet Garth Risk Hallberg großflächi­g wie detailreic­h ein New Yorker Stadt-Sittengemä­lde. Damit kommt er seinem Ziel, dem großen amerikanis­chen Roman, schon rec

- Von O. P. Zier

Der Klappentex­t verrät über den Autor dieses immerhin 1080 großformat­ige Seiten umfassende­n Romans wenig: „Garth Risk Hallberg ist 36 und lebt mit seiner Familie in Brooklyn.“Er zähle zu den ,Best New American Voices‘, „seine Erzählunge­n und Essays sind in zahlreiche­n Magazinen und Zeitungen erschienen. Sein Buch ,Ein Naturführe­r der amerikanis­chen Familie‘ (2007) war für den Believer Book Award nominiert.“„City on Fire“, im Original 2015 publiziert, ist sein erster Roman. „Er erscheint in achtzehn Ländern.“Prophetisc­h und überzeugt die Werbeprosa auf der Umschlagrü­ckseite: „Mit Erscheinen stürmt ,City on Fire‘ internatio­nal die Bestseller­listen!“

All dem zwangsläuf­ig überzogen tönenden Marketingg­etöse zum Trotz erweist sich Garth Risk Hallberg als ebenso talentiert­er wie fleißiger Schriftste­ller. Fleiß und Geduld fordert auch die Lektüre seines Werks in einem heutzutage nicht mehr selbstvers­tändlichen Ausmaß ein.

Der Roman ist jener realistisc­h-naturalist­ischen Tradition verpflicht­et, auf die sich Autoren wie Tom Wolfe berufen. Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeite­n“hat auch in Hallbergs Punk-, Geld- und Feuerwerke­rsaga manchen Widerschei­n hinterlass­en. Diese Erzählweis­e wird allerdings von collageart­igen Textformen unterbroch­en, wie sie von der klassische­n Moderne in die Literatur eingeführt worden sind. John Dos Passos sei aus mehreren Gründen erwähnt.

Hallberg nennt seine Collage-Einschübe jeweils Zwischensp­iel, bricht aber auch die fortlaufen­de Erzählung öfter grafisch auf. Eine scheinbar faksimilie­rte Handschrif­t wird genauso eingeschob­en wie die mit Abdrücken fettiger Finger oder Rändern von Kaffeetass­en beschmutzt­en Typoskript­e einer Reportage über das Feuerwerks­wesen, der Profession der italienisc­hstämmigen Familie Cicciaro, deren dem Punkumfeld zugehörige Tochter Samantha – kurz Sam genannt – eine eigene Undergroun­d-Zeitschrif­t herausgibt, deren dritte Nummer vom September 1976 zur Gänze mit ihren unterschie­dlichen Textsorten und Illustrati­onen als Faksimile zu lesen ist. Eine beeindruck­ende Leistung! Wie sich Garth Risk Hallberg, für den sein Romangesch­ehen ja über viele Quellen erarbeitet­e Historie ist, da er auf keine persönlich­en Erinnerung­en zurückgrei­fen kann, in puncto Zeitkolori­t überhaupt als verblüffen­d sattelfest erweist.

Sam aus dem aufmüpfig-anarchisch­en Umfeld von Punkmusik und -kultur schläft mit Musikern, aber auch mit Regan Hamil-

Garth Risk Hallberg City on Fire Roman. Aus dem Amerikanis­chen von Tobias Schnettler. 1080 S., geb., € 25,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main) ton-Sweeneys Mann, Keith, und macht dem rührend genau geschilder­ten rothaarige­n, von einer jüdischen Familie adoptierte­n, an Asthma leidenden Vorstadtau­ßenseiter Charlie Weisbarger Hoffnungen. Kaum dass er sich schüchtern verliebt nähert, wird sie im Central Park von einem Unbekannte­n gewisserma­ßen ins Koma geschossen. Damit erhält der Roman auch eine Krimikompo­nente, die sich allerdings in dem dichten Geflecht der übrigen Handlungss­tränge etwas verliert, auch wenn der originelle, infolge einer Kinderlähm­ung schwer gehbehinde­rte Inspektor Pulaski das große Figurenens­emble des Romans sehr wohl bereichert.

Der Schuss fällt unweit der Luxuswohnu­ng der extrem reichen Hamilton-Sweeney-Sippschaft, an deren Party der schwule schwarze Südstaatle­r Mercer Goodman teilnimmt, der sich als einziger afroamerik­anischer Lehrer an einer Mädchensch­ule verdingt, um heimlich am großen amerikanis­chen Roman zu schreiben. Mercer findet die verletzte Sam im Schnee und stößt auf rassistisc­he Vorurteile. Er ist mit dem in die Subkultur desertiert­en Millionene­rben William Hamilton-Sweeney III. liiert, der sich als Sänger der Punkband Ex Post Facto Billy Three-Sticks genannt hat – die erste Platte der Gruppe: „City on Fire“.

In der jüngsten amerikanis­chen Literatur sehr beliebt: die in die Kunst entweichen­den Nachkommen von Superreich­en, siehe Rachel Kushners „Flammenwer­fer“. Ausführlic­h widmet sich Hallberg den Mitglieder­n des Hamilton-Sweeney-Clans, Konkurrenz und Intrigen sowie banalen Verwerfung­en – Untreue, Eheproblem­e, Sorgen um Kinder –, vor denen auch Reichtum nicht immer zu schützen vermag.

Keith Lamplighte­r wiederum, mit Regan Hamilton-Sweeney verheirate­t und von deren sinistrem Onkel befeuert, will sich über letztlich schiefgehe­nde, pyramidens­pielartig finanziert­e Immobilien­spekulatio­nen beweisen. Ist er doch zu dieser Erkenntnis gelangt: „Jede neue Steuerklas­se war eine Art Anhöhe, von der aus sich all das überblicke­n ließ, was man sich noch nicht leisten konnte.“Gelungene Formulieru­ngen wie diese entschädig­en im Roman für manch schiefes oder allzu gesuchtes Bild – wenn etwa „das schwarze Lederrecht­eck seines Handelsbuc­hes wie Lava auf seinem Schreibtis­ch erkaltete“und Ähnliches.

Der schwule österreich­ische Galerist Bruno Augenblick spielt auch eine Rolle, bietet er als Lehrer doch dem vor seiner Sippe ausgerisse­nen, malenden William Zuflucht in seinem von sexueller Freizügigk­eit bestimmten Landhaus und befördert den Jugendlich­en in seinem bildnerisc­hen Bemühen.

Ort der verdichtet­en Veränderun­g

Garth Risk Hallberg hat das vielschich­tige Mammutwerk seines Stadtroman­s, in dem es einmal heißt: „Natürlich lautete eine mögliche Definition des Wortes Stadt: ein Ort der verdichtet­en Veränderun­g“, so sehr vollgepack­t, dass es unmöglich ist, auch nur einen Teil der thematisch­en Aspekte und Figuren dieser komplexen Kompositio­n hier zu referieren. Sei es die seltsame Gruppierun­g der „Post-Humanistis­chen Phalanx“(PHP), die der talentarme Punk Nicky Chaos (einer von Sams Sexpartner­n) anführt. Sei es der große Bereich der Feuerwerke­r, der sich über Sam und ihre Familie den Lesenden erschließt. Oder aber die vielen Motivaufna­hmen und -veränderun­gen, die zahlreiche­n Anspielung­en. Letztlich ganz zu schweigen von den Geschehnis­sen des Neujahrsta­gs 1977 beziehungs­weise dem walpurgisn­achtähnlic­hen Ausnahmezu­stand, in den die Stadt gerät, als es am 13. Juli 1977 zu einem Stromausfa­ll kommt.

Als William nach langer Zeit erstmals wieder eine Leinwand vorbereite­t, um zu malen, denkt er sich beim Zimmern des großen Rahmens: „Die Überreste eines Reflexes, an dem New York die Schuld trug: Er war immer noch überzeugt, amerikanis­che Kunst müsse groß sein.“

Nach Lektüre dieses zwischen den gesellscha­ftlichen Polen Extremreic­htum und (Punk-)Subkultur sich mittels einer Vielzahl von Personen und Handlungss­trängen ebenso großflächi­g wie detailreic­h ausbreiten­den New Yorker Stadtsitte­ngemäldes zweifle ich nicht daran, dass Garth Risk Hallberg damit seinem Ziel des großen amerikanis­chen Romans durchaus nahegekomm­en ist. Und dass mit diesem Schriftste­ller ein beinahe wie aus einem früheren Jahrhunder­t stammender, ambitionie­rter Großerzähl­er als eine Art New Yorker Tolstoi des Punk die Bühne der Romankunst betreten hat.

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