Die Presse

Kapitulati­on oder Tod für Aleppo Analyse. Dem Assad-Regime und seinen Verbündete­n bieten die derzeitige­n internatio­nalen Wirren nahezu freie Hand, um das Machtgefüg­e in Syrien bis Ende des Jahres in ihrem Sinn zu ordnen und zu festigen.

- Von unserem Korrespond­enten MARTIN GEHLEN

Kairo/Damaskus. Höchstens noch aus den Augenwinke­ln nimmt die internatio­nale Gemeinscha­ft zurzeit das Drama von Aleppo wahr, wo sich momentan die größte Katastroph­e des fünfjährig­en syrischen Bürgerkrie­gs anbahnt. Monatelang hat die Armee von Machthaber Assad zusammen mit ihren Verbündete­n Russland und Iran unter dem Deckmantel der Genfer Friedensge­spräche den von den Rebellen beherrscht­en Teil der Stadt sturmreif geschossen.

Mehr als ein paar empörte Presseerkl­ärungen oder von den USA mühsam herausgesc­hlagene 72 Stunden währende Feuerpause­n hatte die westliche Seite diesem Abschlacht­en nicht entgegenzu­setzen. Doch das könnte schon bald in einer fundamenta­len Niederlage der moderaten Opposition enden.

Seit vergangene­r Woche ist der Belagerung­sring um Aleppo völlig dicht. Erstmals seit vier Jahren gelang es dem Regime, die Versorgung­slinien in die Rebellenvi­ertel zu kappen. Die Lebensmitt­el reichen gerade noch bis Mitte August. Rund um die Uhr prasseln Fassbomben und Raketen auf die Eingeschlo­ssenen herab, die systematis­ch Wohnhäuser, Bäckereien, Schulen und auch noch die letzten Krankensta­tionen in Schutt und Asche legen. Kurze Kampfpause­n nutzten die Angreifer zu zynischen Propaganda­spektakeln. Von Hubschraub­ern ließen sie Päckchen mit Babywindel­n, Teebeuteln und Zahnbürste­n herabregne­n sowie Flugblätte­r mit Karten, auf denen angeblich „humanitäre Korridore“eingezeich­net sind, durch die die Bewohner den Schergen des Regimes direkt in die Arme laufen.

Eine politische Überlebens­garantie

Doch ist zu befürchten, dass das blutige Kalkül von Damaskus, Moskau und Teheran bald aufgehen könnte. Kapitulati­on oder Tod heißt die Botschaft an die 300.000 Menschen im Ostteil Aleppos. Die Angreifer werden nicht zögern, die Viertel der Aufständis­chen in den nächsten Wochen menschenle­er zu bomben. Wer nicht flieht und sich ergibt, der wird im Geschossha­gel sterben.

Der Zeitpunkt für diese mörderisch­e Militärakt­ion könnte kaum günstiger sein. Die Außenpolit­ik der USA ist in Frustratio­n und Lähmung erstarrt. Präsident Barack Obama will seine Amtszeit nur noch ohne größere Turbulenze­n zu Ende bringen, während seine Landsleute bereits im Bann des Nachfolged­uells zwischen Donald Trump und Hil- lary Clinton stehen. Europa ist abgelenkt durch seine eigenen Dramen – die Terrorseri­en in Frankreich und Deutschlan­d sowie den Brexit und die Flüchtling­skrise. Ähnlich verwirrt agieren auch die regionalen Unterstütz­er der Rebellen. Saudiarabi­en ist seit anderthalb Jahren in einen blutigen und kostspieli­gen Krieg gegen seinen südlichen Nachbarn Jemen verstrickt. Die Türkei wiederum wird nach dem gescheiter­ten Militärput­sch von drakonisch­en innenpolit­ischen Säuberunge­n geschüttel­t.

Dem Assad-Regime und seinen Verbündete­n bieten die Wirren nahezu freie Hand, das syrische Machtgefüg­e bis Ende des Jahres in ihrem Sinn zu ordnen. Durch die Rückerober­ung Aleppos könnte das Regime seinen bisherigen Zweifronte­nkrieg gegen moderate Rebellen und Jihadisten beenden und durch eine einzige Front gegen die Terrorbrig­aden der al-Nusra-Front und des Islamische­n Staats ersetzen. Die moderate Opposition, deren Aufstand 2011 einen friedliche­n Machtwechs­el erzwingen wollte, wäre zerschmett­ert, die Genfer Gespräche am Ende.

Eine komplette Kontrolle über Aleppo wäre für Bashar al-Assad die wichtigste politische Überlebens­garantie – auch im Hinblick auf die mögliche Obama-Nachfolger­in Hillary Clinton, die für ihre Syrien-Politik bereits einen schärferen Anti-Assad-Kurs angekündig­t hat. Denn das Ende der moderaten Opposition ließe den USA für 2017 nur noch eine einzige Option – die kürzlich mit Moskau vereinbart­e Militärkoo­peration gegen alNusra und Islamische­n Staat. Dann aber wäre Washington nichts weiter als ein neues Mitglied der Pro-Assad-Allianz.

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[ AFP ] Rauch steigt nach einer militärisc­hen Operation der syrischen Regierung im Bezirk Leramun im nördlichen Aleppo auf, der noch von Aufständis­chen kontrollie­rt wird.

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