Die Presse

Der mutigste Avantgardi­st hieß Mozart. Davon handeln Festspiele.

Alle Jahre wieder ruft es „Jedermann!“. Und ebenso prompt wird gefragt: Wozu brauchen wir Festspiele? Die Antwort darauf gibt nicht die Kulturpoli­tik.

- VON WILHELM SINKOVICZ

D er Reigen der teuersten Opern-, Theater- und Konzertver­anstaltung­en der Welt hat begonnen. Und Jahr für Jahr wird gefragt: Hat uns der Almauftrie­b jenseits seiner Funktion als Jahrmarkt der Eitelkeite­n etwas zu sagen, heute zumal, da sich rundum bedrohlich­e Szenarien entwickeln?

Deren Schreckens­visionen finden wir in der Kunst gespiegelt, meint Schulweish­eit. Kunst kann vielleicht Ängste bannen. Weist sie aber auch Auswege, zeigt sie Zukunftspe­rspektiven auf? Politikera­nsprachen versichern uns gebetsmühl­enartig, wir müssten uns um die einigende, die vorausweis­ende Qualität künstleris­cher Arbeit nicht sorgen, solange wir uns nur der zeitgenöss­ischen Kunst öffneten.

So galt der erste Salzburger Auftritt der Wiener Philharmon­iker heuer der Uraufführu­ng eines Oratoriums von Peter´ Eötvös nach Worten des jüngst verstorben­en Peter´ Esterhazy.´ Das Werk paraphrasi­ert die bange Frage unserer Kulturvord­enker: Hat es Sinn, heute noch Oratorien zu schreiben? Die Antwort bleibt zwar offen – ein deutliches Ja ist aber nicht zu vernehmen.

Auch die erste Opernpremi­ere galt 2016 einer Uraufführu­ng. Sie traf den Nerv unserer Zeit, denn in Thomas Ad`es’ „Exterminat­ing Angel“verschmort eine hermetisch abgeschlos­sene Gesellscha­ft in ihrem eigenen Saft; eine Zivilisati­on am Ende, Restbestän­de einstiger Kultiviert­heit zerbröseln in völlige Verrohung.

Diese traurige Erkenntnis zu gewinnen, hätte es keiner Opern-Novität bedurft. Das Werk bedient sich nämlich des Szenariums von Luis Bun˜uels gleichnami­gem Film. Der ist mehr als ein halbes Jahrhunder­t alt. 1962 galt er als surrealist­isch. Heute nimmt sich das Treiben der geschlosse­nen Gesellscha­ft erschrecke­nd aktuell aus. Wenn uns Festspiele derartige Spiegel vorhalten sollen, hätte es genügt, den längst historisch gewordenen Film auf einer Riesenlein­wand zu zeigen.

Die viel beschworen­e Öffnung eines Kulturfest­ivals für das zeitgenöss­ische Schaffen – in Wahrheit hat keine einzige Uraufführu­ng in der fast 100-jährigen Festspielg­eschichte „Epoche gemacht“– ist Schimäre. Ebenso die Forderung nach der Aktualisie­rung klassische­r Kunstwerke.

In Wahrheit wären Festspiele im Herzen Europas dazu da, das europäisch­e Kunsterbe bestmöglic­h zu pflegen. Festspiel-Gründer Hugo von Hofmannsth­al meinte programmat­isch: „Die Nationen sollen einander in ihrem Höchsten erkennen, nicht in ihrem Trivialste­n.“

Und wir selbst sollten nicht nach diesem „Höchsten“unseres kulturelle­n Erbes Ausschau halten? In Zeiten, in denen im Namen der Zivilisati­on auch von Glaubensge­meinschaft­en verlangt werden darf, sich gegen gefährlich­e Auswüchse in ihren eigenen Reihen klar abzugrenze­n, sich ihres guten, wahren, schönen Kerns zu besinnen? W er freilich in Bayreuth den „Ring des Nibelungen“, in Salzburg (wie im Vorjahr geschehen) den „Fidelio“unter dem Siegel einer angeblich nötigen „Aktualisie­rung“in Grund und Boden spielt, tut nichts anderes, als Kunstwerke visionären, utopischen Rangs auf das eigene Niveau zu zerren. Könnten wir nicht mehr über die europäisch­en Wurzeln und unsere Befindlich­keiten erfahren, wenn die Kunst unseren Blick in die andere Richtung zu lenken versuchte?

Aufwärts? Zu jenen Höhen, die der Eröffnungs­redner der diesjährig­en Festspiele beschwor, als er Hölderlin zitierte. „An die Parzen“erzählt von der wahren Triebkraft aller Kunst: vom Streben nach ästhetisch­er Vollkommen­heit.

Um die ging es wohl auch Hofmannsth­al, wenn er als salzburgis­che Dramaturgi­e formuliert­e: „Wir wollen nicht neue Forderunge­n aufstellen, sondern die alten einmal wirklich erfüllen.“Damit wäre die Kunst erst wahrhaft politisch wirksam. Die Vorlagen haben Shakespear­e und Schiller, Mozart und Beethoven geliefert. Sie alle sind, nähme man sie ernst, fortschrit­tlich, zeitgemäß, ja sogar „situations­elastisch“genug, um nicht auf aktualisie­rende Hilfestell­ung vonseiten Neunmalklu­ger aus dem frühen 21. Jahrhunder­t angewiesen zu sein.

Eher ist es ja wohl doch immer noch umgekehrt . . .

Peter´ Eötvös bekam den Auftrag, ein Oratorium für die „Ouverture spirituell­e“zu komponiere­n und bat Peter´ Esterhazy´ um ein Libretto. Geistlich? Weltlich? Gleichviel, man besingt die Tatsache, dass es unmöglich ist, überhaupt noch Oratorien zu schreiben. Und bespricht sie: Peter Simonische­k führt das große Wort – und hat dieses sogleich selbst zu ironisiere­n.

Arthur Honegger, dessen Dritte Symphonie heuer auch zu hören war, hat einmal gemeint, ein Komponist sei ein Mann, der sich nach Leibeskräf­ten müht, etwas herzustell­en, wofür dann kein Mensch Verwendung hat. Die Zeiten, da anmutige Serenaden für fürstliche Abendunter­haltungen oder Lobeshymne­n auf den lieben Gott zum kultiviert­en Lebensstil gehörten, sind ja wahrlich vorbei. Auch Opernfreun­de warten längst nicht mehr auf neue Stücke, sondern nur noch auf Anna Netrebko.

Ein Oratorium also? Zur Bestätigun­g kulturpoli­tischer Thesen über die Zukunftstr­ächtigkeit von Festspiel-Veranstalt­ungen? Dafür hatte Peter´ Esterhazy,´ dafür hat Peter´ Eötvös zu viel Realitätss­inn; und zu viel Humor. Wobei dem Publikum das zunächst trefflich beschworen­e Lachen im Halse stecken blieb, als nach bewusst fragmentar­ischen, stotternde­n („Oratorium balbulum“!) Beschwörun­gen einer sinnhafter­en Kunst-Vergangenh­eit, Erinnerung­en an Halleluja-Rufe von Händel und anderen Meistern, für die Gott noch mehr war als eine Arbeitshyp­othese, als nach willkürlic­h aneinander­gereihten Betrachtun­gen über die Perspektiv­losigkeit heutigen Singens und Sagens auch noch Nine Eleven als möglicher Libretto-Textbauste­in ins Spiel kam.

Salz und Pfeffer zum Terrorakt?

Vielleicht gab es ja die Dame, die unmittelba­r vor dem Anschlag auf den ersten der Twin-Towers in der Todesmasch­ine noch Tomatensaf­t bestellt hat? Die Frage des Stewards nach Salz und Pfeffer klingt länger nach als jedes Gotteslob!

Der ungarische Rundfunkch­or absolviert dergleiche­n Herausford­erungen durchwegs mit Schönklang, wie auch die Wiener Philharmon­iker unter Daniel Harding Eötvös’ grandios aufgefäche­rte Partitur realisiere­n, als wäre die eine Art Musterkata­log höchster Instrument­ationskuns­t und orchestral­er Klangkultu­r. Iris Vermillion leiht ihren herrlich tiefen Alt nachdenkli­chen Betrachtun­gen ebenso wie kabarettis­tischen Einwürfen; und Topi Lehtipuu stottert als mittelalte­rlicher Philosoph (Notker, der Stammler), um vor allem nachzuweis­en, was passiert, wenn aus einem geistliche­n Jubelruf ein Fall für die Logopädie zu werden droht: Bald bleibt von Ha-ha-halleluja nur noch das Ha-ha-ha.

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VON WILHELM SINKOVICZ

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