Der mutigste Avantgardist hieß Mozart. Davon handeln Festspiele.
Alle Jahre wieder ruft es „Jedermann!“. Und ebenso prompt wird gefragt: Wozu brauchen wir Festspiele? Die Antwort darauf gibt nicht die Kulturpolitik.
D er Reigen der teuersten Opern-, Theater- und Konzertveranstaltungen der Welt hat begonnen. Und Jahr für Jahr wird gefragt: Hat uns der Almauftrieb jenseits seiner Funktion als Jahrmarkt der Eitelkeiten etwas zu sagen, heute zumal, da sich rundum bedrohliche Szenarien entwickeln?
Deren Schreckensvisionen finden wir in der Kunst gespiegelt, meint Schulweisheit. Kunst kann vielleicht Ängste bannen. Weist sie aber auch Auswege, zeigt sie Zukunftsperspektiven auf? Politikeransprachen versichern uns gebetsmühlenartig, wir müssten uns um die einigende, die vorausweisende Qualität künstlerischer Arbeit nicht sorgen, solange wir uns nur der zeitgenössischen Kunst öffneten.
So galt der erste Salzburger Auftritt der Wiener Philharmoniker heuer der Uraufführung eines Oratoriums von Peter´ Eötvös nach Worten des jüngst verstorbenen Peter´ Esterhazy.´ Das Werk paraphrasiert die bange Frage unserer Kulturvordenker: Hat es Sinn, heute noch Oratorien zu schreiben? Die Antwort bleibt zwar offen – ein deutliches Ja ist aber nicht zu vernehmen.
Auch die erste Opernpremiere galt 2016 einer Uraufführung. Sie traf den Nerv unserer Zeit, denn in Thomas Ad`es’ „Exterminating Angel“verschmort eine hermetisch abgeschlossene Gesellschaft in ihrem eigenen Saft; eine Zivilisation am Ende, Restbestände einstiger Kultiviertheit zerbröseln in völlige Verrohung.
Diese traurige Erkenntnis zu gewinnen, hätte es keiner Opern-Novität bedurft. Das Werk bedient sich nämlich des Szenariums von Luis Bun˜uels gleichnamigem Film. Der ist mehr als ein halbes Jahrhundert alt. 1962 galt er als surrealistisch. Heute nimmt sich das Treiben der geschlossenen Gesellschaft erschreckend aktuell aus. Wenn uns Festspiele derartige Spiegel vorhalten sollen, hätte es genügt, den längst historisch gewordenen Film auf einer Riesenleinwand zu zeigen.
Die viel beschworene Öffnung eines Kulturfestivals für das zeitgenössische Schaffen – in Wahrheit hat keine einzige Uraufführung in der fast 100-jährigen Festspielgeschichte „Epoche gemacht“– ist Schimäre. Ebenso die Forderung nach der Aktualisierung klassischer Kunstwerke.
In Wahrheit wären Festspiele im Herzen Europas dazu da, das europäische Kunsterbe bestmöglich zu pflegen. Festspiel-Gründer Hugo von Hofmannsthal meinte programmatisch: „Die Nationen sollen einander in ihrem Höchsten erkennen, nicht in ihrem Trivialsten.“
Und wir selbst sollten nicht nach diesem „Höchsten“unseres kulturellen Erbes Ausschau halten? In Zeiten, in denen im Namen der Zivilisation auch von Glaubensgemeinschaften verlangt werden darf, sich gegen gefährliche Auswüchse in ihren eigenen Reihen klar abzugrenzen, sich ihres guten, wahren, schönen Kerns zu besinnen? W er freilich in Bayreuth den „Ring des Nibelungen“, in Salzburg (wie im Vorjahr geschehen) den „Fidelio“unter dem Siegel einer angeblich nötigen „Aktualisierung“in Grund und Boden spielt, tut nichts anderes, als Kunstwerke visionären, utopischen Rangs auf das eigene Niveau zu zerren. Könnten wir nicht mehr über die europäischen Wurzeln und unsere Befindlichkeiten erfahren, wenn die Kunst unseren Blick in die andere Richtung zu lenken versuchte?
Aufwärts? Zu jenen Höhen, die der Eröffnungsredner der diesjährigen Festspiele beschwor, als er Hölderlin zitierte. „An die Parzen“erzählt von der wahren Triebkraft aller Kunst: vom Streben nach ästhetischer Vollkommenheit.
Um die ging es wohl auch Hofmannsthal, wenn er als salzburgische Dramaturgie formulierte: „Wir wollen nicht neue Forderungen aufstellen, sondern die alten einmal wirklich erfüllen.“Damit wäre die Kunst erst wahrhaft politisch wirksam. Die Vorlagen haben Shakespeare und Schiller, Mozart und Beethoven geliefert. Sie alle sind, nähme man sie ernst, fortschrittlich, zeitgemäß, ja sogar „situationselastisch“genug, um nicht auf aktualisierende Hilfestellung vonseiten Neunmalkluger aus dem frühen 21. Jahrhundert angewiesen zu sein.
Eher ist es ja wohl doch immer noch umgekehrt . . .
Peter´ Eötvös bekam den Auftrag, ein Oratorium für die „Ouverture spirituelle“zu komponieren und bat Peter´ Esterhazy´ um ein Libretto. Geistlich? Weltlich? Gleichviel, man besingt die Tatsache, dass es unmöglich ist, überhaupt noch Oratorien zu schreiben. Und bespricht sie: Peter Simonischek führt das große Wort – und hat dieses sogleich selbst zu ironisieren.
Arthur Honegger, dessen Dritte Symphonie heuer auch zu hören war, hat einmal gemeint, ein Komponist sei ein Mann, der sich nach Leibeskräften müht, etwas herzustellen, wofür dann kein Mensch Verwendung hat. Die Zeiten, da anmutige Serenaden für fürstliche Abendunterhaltungen oder Lobeshymnen auf den lieben Gott zum kultivierten Lebensstil gehörten, sind ja wahrlich vorbei. Auch Opernfreunde warten längst nicht mehr auf neue Stücke, sondern nur noch auf Anna Netrebko.
Ein Oratorium also? Zur Bestätigung kulturpolitischer Thesen über die Zukunftsträchtigkeit von Festspiel-Veranstaltungen? Dafür hatte Peter´ Esterhazy,´ dafür hat Peter´ Eötvös zu viel Realitätssinn; und zu viel Humor. Wobei dem Publikum das zunächst trefflich beschworene Lachen im Halse stecken blieb, als nach bewusst fragmentarischen, stotternden („Oratorium balbulum“!) Beschwörungen einer sinnhafteren Kunst-Vergangenheit, Erinnerungen an Halleluja-Rufe von Händel und anderen Meistern, für die Gott noch mehr war als eine Arbeitshypothese, als nach willkürlich aneinandergereihten Betrachtungen über die Perspektivlosigkeit heutigen Singens und Sagens auch noch Nine Eleven als möglicher Libretto-Textbaustein ins Spiel kam.
Salz und Pfeffer zum Terrorakt?
Vielleicht gab es ja die Dame, die unmittelbar vor dem Anschlag auf den ersten der Twin-Towers in der Todesmaschine noch Tomatensaft bestellt hat? Die Frage des Stewards nach Salz und Pfeffer klingt länger nach als jedes Gotteslob!
Der ungarische Rundfunkchor absolviert dergleichen Herausforderungen durchwegs mit Schönklang, wie auch die Wiener Philharmoniker unter Daniel Harding Eötvös’ grandios aufgefächerte Partitur realisieren, als wäre die eine Art Musterkatalog höchster Instrumentationskunst und orchestraler Klangkultur. Iris Vermillion leiht ihren herrlich tiefen Alt nachdenklichen Betrachtungen ebenso wie kabarettistischen Einwürfen; und Topi Lehtipuu stottert als mittelalterlicher Philosoph (Notker, der Stammler), um vor allem nachzuweisen, was passiert, wenn aus einem geistlichen Jubelruf ein Fall für die Logopädie zu werden droht: Bald bleibt von Ha-ha-halleluja nur noch das Ha-ha-ha.