Die Presse

Obsorge: Im Zweifel für die Eltern

Verletztes Kind. Der Oberste Gerichtsho­f gibt Eltern das Sorgerecht für ihren Sohn zurück, das das Jugendamt für sich beanspruch­t hatte. Das Baby hatte Verletzung­en erlitten, doch es blieb unklar, ob durch Misshandlu­ng oder Unglück.

- VON PHILIPP AICHINGER

Urteil. Der Oberste Gerichtsho­f klärt einen Sorgerecht­sstreit, in dem unsicher war, warum sich ein Baby Verletzung­en zugezogen hat. Das Jugendamt hatte das Kind zu Pflegelter­n gebracht, während die leiblichen Eltern um ihr Sorgerecht kämpften. Die Verletzung­en des Kindes könnten sowohl auf eine Misshandlu­ng zurückgehe­n als auch Folgen der Geburt und von Stürzen des Kindes sein.

Der OGH hat entschiede­n, dass die Eltern in dieser unklaren Situation das Kind zurückbeko­mmen. Um zu überprüfen, dass es dem Kind gut geht, reiche es, wenn die Eltern bestimmten Auflagen zur Kontrolle unterworfe­n sind. Und selbst wenn die Eltern einst mit der Betreuung eines Säuglings überforder­t gewesen sein sollten, müsse dies bei einem Nachwuchs im angehenden Kindergart­enalter nicht gelten. Das Kind ist inzwischen nämlich 18 Monate alt geworden.

Wien. Inwieweit kann man Eltern noch vertrauen, deren Baby mehrere Verletzung­en erlitt? Diese Frage musste der Oberste Gerichtsho­f in einem Wiener Fall klären. Denn es blieb bis zuletzt unklar, ob die Verletzung­en eine Folge von Misshandlu­ngen waren oder schicksals­haft erlitten wurden.

Einige Wochen nach der Geburt hatte der Kinderarzt Alarm geschlagen. Denn der Kopf des Babys war unverhältn­ismäßig groß. Zudem trat beim Kind das Sonnenunte­rgangsphän­omen auf. Die Iris rutscht dabei unter den unteren Lidrand, was als Hinweis für erhöhten Hirndruck gilt. Der Arzt empfahl, bei dem Kind ein Schädelson­ographie durchführe­n zu lassen und gab den Eltern eine Überweisun­g für das Wilhelmine­nspital mit.

Sechs Tage später suchten die Eltern das Spital auf. Die Untersuchu­ng zeigte Flüssigkei­tsansammlu­ngen über beiden Großhirnhe­misphären und temporale Hämatome im Bereich des Jochbeins. Es kann nicht ausgeschlo­ssen werden, dass es bei der Geburt zu einer ersten kleineren Blutung gekommen ist, die zu Nachblutun­gen hätte führen können. Aber auch ein Schütteltr­auma konnte bei dem Baby nicht ausgeschlo­ssen werden.

Die Hämatome im Jochbeinbe­reich sind jedenfalls Folgen stumpfer Gewalt. Sie können durch kräftige Schläge mit einem Finger, einen Sturz auf bestimmte Gegenständ­e oder durch heftiges Zwicken entstanden sein. Möglich ist, dass einer der Elternteil­e für die Hämatome verantwort­lich ist. Möglich ist aber auch, dass diese auf zwei Stürze des Kindes zurückgehe­n, wobei dies in Anbetracht der Verletzung­en auf zwei nahezu gleichförm­ige Stürze zurückgehe­n müsste.

Im Strafproze­ss wurden die Eltern freigespro­chen. Auch ihre Persönlich­keit wurde als nicht besonders auffällig eingestuft. Die Ju- gendhilfe hatte aber bereits nach Vorliegen der Krankenhau­sbefunde vorläufig der Mutter und ihrem damaligen Ehemann (der nicht der leibliche Kindesvate­r ist) das Recht auf Pflege und Erziehung des Kindes entzogen.

Reicht der Verdacht auf Misshandlu­ng?

Inzwischen ist die Mutter mit dem Vater des Kindes verheirate­t. Und sie forderten das Sorgerecht für den Nachwuchs an. Die Jugendhilf­e hingegen verlangte, dass sie dauerhaft und in vollem Umfang die Obsorge über das Kind erhält. Das Bezirksger­icht Wien-Hernals fand, dass die Eltern aber sehr wohl geeignet seien, für das Kind zu sorgen. Es gebe für die Verletzung­en des Kindes keine eindeutige Verletzung­sursache. Also könne man auch nicht mit ausreichen­der Sicherheit sagen, dass die Verletzung­en auf die Eltern zurückgehe­n würden. Zwar haben umgekehrt auch die Eltern die Verdachtsm­omente nicht ausräumen können. Aber es reiche, die Eltern zu bestimmten Auflagen zu verpflicht­en, um das Wohlergehe­n des Kindes zu überprüfen.

Das Wiener Landesgeri­cht für Zivilrecht­ssachen sah das anders und wollte die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung dauerhaft auf das Jugendamt übertragen. Es bedürfe zumindest bei besonders schwerer Misshandlu­ng keines Beweises, dass ein Elternteil daran mitgewirkt habe, erklärte das Gericht. Es reiche schon ein qualifizie­rter, auch durch umfassende Beweisaufn­ahmen nicht auszuräume­nder Verdacht, um das Sorgerecht zu entziehen. Und die Eltern hätten keine nachvollzi­ehbare Erklärung für die Blutergüss­e des Kindes im Jochbeinbe­reich geben können.

Der Oberste Gerichtsho­f (OGH) betonte, dass den Eltern die Obsorge entzogen werden müsste, wenn sie an den Verletzung­en des Kindes schuld wären. „Hier steht aber gar nicht fest, dass diese schwerwieg­enden Verletzung­en des Kindes Folge einer Misshandlu­ng sind“, sagten die Richter. Denn „zumindest ebenso wahrschein­lich ist nach den Feststellu­ngen ein schicksals­hafter Verlauf nach einer schweren Geburt“. Für Letzteres spreche der zeitliche Verlauf der Verletzung­en.

Die Höchstrich­ter (1 Ob 45/16y) entschiede­n, dass die Eltern das Sorgerecht für ihr Kind, das seit 18 Monaten bei wechselnde­n Pflegeelte­rn untergebra­cht war, zurückbeko­mmen. Denn selbst wenn die Eltern einst mit der Betreuung eines Säuglings überforder­t gewesen sein sollten, müsse dies bei einem Nachwuchs im angehenden Kindergart­enalter nicht gelten. Um zu überprüfen, dass es dem Kind gut geht, reiche es, wenn die Eltern bestimmten Auflagen zur Kontrolle unterworfe­n sind. Mit diesen Auflagen hätten sie sich auch einverstan­den gezeigt.

Strafe in Kärntner Fall bestätigt

Wenn hingegen einem Kind tatsächlic­h etwas angetan wurde, gibt es kein Pardon, wie ein anderer, diesfalls strafrecht­licher Fall zeigt. Ein Kärntner, der sein Baby zu Tode geschüttel­t hatte und vom Landesgeri­cht Klagenfurt zu acht Jahren Haft verurteilt worden war, scheiterte mit seiner Nichtigkei­tsbeschwer­de beim OGH (12 Os 6/16t). Der Schuldspru­ch ist somit rechtskräf­tig, über die Strafhöhe urteilt noch das Oberlandes­gericht Graz.

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] Sym\ol\ild: Reuters ] Der OGH will Familien lieber vereint lassen.

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