Die Presse

„Sorge war berechtigt“

Interview. Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn fordert von Ankara eine Entscheidu­ng, ob es die EUMitglied­schaft noch anstrebt.

- VON GERHARD BITZAN UND WOLFGANG BÖHM

EU-Kommissar Johannes Hahn fordert von der Türkei eine grundsätzl­iche Entscheidu­ng.

Die Presse: Mittlerwei­le sind nach dem Putschvers­uch in der Türkei 40.000 Personen verhaftet worden. Die Pressefrei­heit ist teilweise eingeschrä­nkt. In der Justiz gab es grobe Säuberung. Ist das ein Partner, der mit der EU noch gemeinsame Werte teilt und der verlässlic­h ist? Johannes Hahn: Die Türkei ist ein ganz wichtiges Nachbarlan­d der EU. Jeder ist gut beraten, mit seinen Nachbarn gute Beziehunge­n zu haben. Die Situation allerdings, wie sie sich in der Türkei heute darstellt, ist nicht so, dass sie einen Beitrag zu unserem Stabilität­sbedürfnis leistet. Wir haben den Militärput­sch unmittelba­r verurteilt. In Folge haben wir uns aber genau angesehen, wie die Türkei mit der Aufarbeitu­ng dieses Putsches umgeht. Hier ist in weiten Kreisen Europas erhebliche Irritation entstanden – über das Ausmaß und das Tempo der Verhaftung­swelle. Wir verfügen auch über keine offizielle­n Informatio­nen der türkischen Regierung. Die OSZE hat bereits vor Wochen angeboten, dass sie die Prozesse gegen vermeintli­che Putschiste­n beobachten würde, ob hier rechtsstaa­tliche Normen gewahrt bleiben. Die türkische Regierung hat das aber bisher leider noch nicht zugesagt.

Die Türkei behauptet, die EU habe den Putsch nicht ausreichen­d verurteilt. Das ist nicht korrekt. Meine Kollegin, die EUAußenbea­uftragte Mogherini, und ich haben innerhalb von Stunden ein eindeutige­s Statement abgegeben, ebenso wie Vertreter anderer EU-Institutio­nen. Wir haben den Putsch mit klaren Worten verurteilt, jedoch gleichzeit­ig zum Ausdruck gebracht, dass wir von einem Land, das der EU beitreten will, erwarten, dass es bei der Aufarbeitu­ng eines solchen Putsches rechtsstaa­tlichen Prinzipien folgt. Und diese Sorge war berechtigt, wie die weiteren Entwicklun­gen gezeigt haben.

Im Herbst wird die EU-Kommission einen neuen Fortschrit­tsbericht zur Beitrittsr­ei- fe der Türkei veröffentl­ichen. Gab es zuletzt überhaupt Fortschrit­te, die weitere Beitrittsv­erhandlung­en rechtferti­gen? Da gibt es verschiede­ne Denkschule­n. Ich gehöre zu der, die die Gespräche – wenn sie die andere Seite will – fortsetzen möchte. Im Grunde muss aber die Türkei für sich eine Entscheidu­ng treffen, wie sie mit ihrer vom Europäisch­en Rat zugestande­nen europäisch­en Perspektiv­e umgehen möchte. Die Türkei will Mitglied werden, der Wunsch kam von ihr. Wenn man Mitglied werden möchte, muss man Kriterien erfüllen. Und diese Spielregel­n sind nicht verhandelb­ar. Die Türkei sollte bald eine Klarstellu­ng treffen, ob sie diese Bedingunge­n akzeptiere­n kann und will. Denn derzeit belastet diese ungeklärte Frage das Verhältnis.

Bundeskanz­ler Christian Kern hat ebenso wie EVP-Fraktionsc­hef Manfred Weber ein Aussetzen der Beitrittsv­erhandlung­en gefordert. Wäre das nicht ehrlicher, statt wegen des Aktionspak­ts zur Flüchtling­skrise diese Verhandlun­gen pro forma aufrechtzu­erhalten? Natürlich bin ich für ein ehrliches Verhältnis. Aber nochmals: Es gibt aufrechte Beschlüsse aller 28 Mitgliedst­aaten. Solange es diese gibt, muss die Kommission sie umsetzen.

Was wird geschehen, wenn die Türkei tatsächlic­h die Todesstraf­e wieder einführt?

Das ist ein Rubikon, das wäre eine Überschrei­tung, auf die wir reagieren müssten.

Wird es angesichts des Brexit nicht sowieso notwendig, sich neue Formen der Anbindung von Staaten an die EU zu überlegen, die nicht Vollmitgli­ed sein wollen oder können? Ich habe meinen Dienststel­len den Auftrag gegeben, sich mit dieser Fragestell­ung zu beschäftig­en. Wir brauchen neue Modelle, weil es ja Nachbarlän­der gibt, bei denen sich die Frage der Mitgliedsc­haft gar nicht stellt, aber das Interesse an einer engen Kooperatio­n mit der EU gegeben ist. Es ist naheliegen­d, dass wir uns hier neue Formate überlegen.

Wie bewerten Sie die zuletzt eher restriktiv­e Flüchtling­spolitik der österreich­ischen Bundesregi­erung? Viele Länder glauben, dass sie durch Abschottun­g und hochgefahr­ene Grenzen einen Schutz erzeugen. Aber letztendli­ch muss jeder verstehen, dass wir ein dermaßen komplexes Problem nicht ohne gesamteuro­päische Lösung werden lösen können. Verteidigu­ngsministe­r Hans Peter Doskozil hat gesagt, man muss europäisch denken und bilateral handeln. Ich hoffe, das wird nicht umgesetzt, denn ich weiß gar nicht, wie das funktionie­ren soll. Am Ende des Tages müssen nationale Maßnahmen immer Teil einer gesamteuro­päischen Lösung sein. Zurück zur Türkei: Präsident Erdogan˘ behauptet, die EU sei mit den vereinbart­en Zahlungen zum Flüchtling­spakt säumig. Auch das ist nicht korrekt. Wir haben über 200 Millionen Euro bereits überwiesen, über zwei Milliarden Euro sind bis Ende des Sommers für konkrete Projekte bereitgest­ellt. Aber das Geld geht nicht primär an die Türkei, sondern an internatio­nale Hilfsorgan­isationen. Über sie kommt die finanziell­e Unterstütz­ung den Flüchtling­en selbst zugute. Wir arbeiten aber auch mit türkischen Behörden zusammen. Etwa wenn es um den Spracherwe­rb geht, oder bei der Unterstütz­ung von Gemeinden, die überpropor­tional von der Flüchtling­swelle betroffen sind. Wir können die Gelder nur bereitstel­len, wenn auch der Bedarf nachgewies­en werden kann. Vielleicht war da die Vermutung auf türkischer Seite, wir überweisen einfach einen Betrag und fragen nicht weiter nach.

Erdogan˘ droht immer wieder mit einer Öffnung der Grenzen für Flüchtling­e. Unter Nachbarn und Partnern sollte man nicht drohen. Die Aufschauke­lung der Stimmung bei geringsten Anlässen ist nicht sinnvoll. Wir brauchen eine Abrüstung der Worte und Emotionen. Dies gilt auch für das bilaterale Verhältnis Österreich-Türkei. Was das Flüchtling­sabkommen betrifft, so glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass die Türkei auf die finanziell­e Unterstütz­ung der EU in der Flüchtling­skrise verzichten will und kann.

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Hahn appelliert an die türkische Regierung: „Die Aufsch der Stimmung bei geringsten Anlässen ist nicht sinnvoll.“
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