Die Presse

US-Besuch bei einem „gestresste­nreund

Türkei. US-Vizepräsid­ent Joe Biden reist nach Ankara. Seit dem Putschvers­uch kriselt es zwischen den langjährig­en Verbündete­n.

- Von unserer Mitarbeite­rin SUSANNE GÜSTEN

Washington. Wenn US-Vizepräsid­ent Joe Biden heute die Türkei besucht, trifft er auf ein Land, das sich seit seiner letzten Visite vor einem halben Jahr völlig verändert hat. Schon damals gab es Streit, etwa über das Thema Meinungsfr­eiheit. Doch diese Differenze­n waren harmlos verglichen mit dem, was Biden nun erwartet: Seit dem Putschvers­uch sind die USA für die Türken zum großen Buhmann geworden. Eine jahrzehnte­lange Partnersch­aft löse sich auf, meinen Experten. Washington ist sichtlich besorgt: Zuerst sollte Außenminis­ter John Kerry reisen. Doch dann kam die US-Regierung zu dem Schluss, dass ein bloßer Ministerbe­such wohl nicht genug sein würde. Die Gräben zwischen Türken und Amerikaner­n sind tief.

Türkische Regierungs­vertreter und regierungs­nahe Medien verbreiten offen die These, die Amerikaner seien die eigentlich­en Drahtziehe­r des Umsturzver­suches gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ gewesen. Laut einer Umfrage glauben zwei von drei Türken, dass Washington die Weichen für den Putsch gestellt hat: Der von Erdogan˘ als Putschführ­er bezeichnet­e Geistliche Fethullah Gülen lebt seit fast 20 Jahren in den USA. Amerika müsse sich zwischen Gülen und der Türkei entscheide­n, sagte Erdogan˘ kürzlich. Ministerpr­äsident Binali Yıldırım betonte am Wochenende, das Asyl für Gülen in den USA sei dabei, die Beziehunge­n zwischen beiden Ländern zu „zerstören“.

So tief die türkische Enttäuschu­ng ist – sie ist keineswegs der einzige Grund für das wachsende Zerwürfnis zwischen zwei Ländern, die sich seit den 1950ern als enge Partner sehen. Die Unterstütz­ung der USA für kurdische Milizen in Syrien bei deren Kampf gegen den Islamische­n Staat (IS) ist Ankara seit Jahren ein Dorn im Auge.

Die Kurden wollten im Norden Syriens entlang der türkischen Grenze einen eigenen Staat gründen und die Türkei damit vom Rest des Nahen Ostens trennen, heißt es in Ankara: Die Türkei solle auf Geheiß der USA eingekesse­lt werden, schrieb Ibrahim Karagül, Chefredakt­eur von Erdogans˘

Leib- und Magenblatt „Yeni Safak“. Karagül fordert, die Türkei solle die auf der südtürkisc­hen Luftwaffen­basis stationier­ten US-Nuklearwaf­fen unter ihre Kontrolle bringen. Kurz vor Bidens Ankunft nahm die türkische Artillerie Stellungen der mit den USA verbündete­n syrischen Kurden unter Beschuss.

US-Experten empfehlen neue Partner

In Washington empfehlen einige Experten der Obama-Regierung, sie solle die Konsequenz­en ziehen und andere Nahost-Länder als enge Partner auswählen. Steven Cook von der Denkfabrik Council on Foreign Relations sagte jüngst bei einer Konferenz, der „Mythos“der weit in den Kalten Krieg zurückreic­henden amerikanis­ch-türkischen Partnersch­aft sei als Basis für eine enge Kooperatio­n im 21. Jahrhunder­t zu wenig.

Offiziell will die US-Regierung nichts von einer solchen Neuausrich­tung wissen. Die Türkei bleibe als Nato-Partner und als Genosse im Kampf gegen den IS wichtig, sagte Außenamtss­precher John Kirby vor einigen Tagen. „Die Türkei ist ein Freund und Verbündete­r“, betonte er. Ankara sei wegen des Putschvers­uches derzeit lediglich „ein wenig gestresst“. Bidens Besuch wird zeigen, ob das wirklich alles ist.

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