Die Presse

Deutschlan­d schwimmt im Geld

Deutschlan­d. Die gute Konjunktur bescherte dem Staat einen Rekordüber­schuss im ersten Halbjahr. Rufe ertönen: von rechts nach Steuersenk­ungen, von links nach mehr Investitio­nen.

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Rekordüber­schuss. Die stabile Konjunktur, der boomende Arbeitsmar­kt und sinkende Zinskosten haben dem deutschen Staat einen Rekordüber­schuss im Haushalt beschert. Bund, Länder, Kommunen und Sozialkass­en nahmen in den ersten sechs Monaten insgesamt 18,5 Milliarden Euro mehr ein, als sie ausgaben.

Einen so hohen Überschuss zur Jahresmitt­e gab es nach der Wiedervere­inigung noch nie, teilte gestern das Statistisc­he Bundesamt mit. Das Plus entspricht 1,2 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP). Kein Wunder ist es daher, dass in Politik und Wirtschaft angesichts der Zwischenbi­lanz die Rufe nach mehr Investitio­nen und Steuersenk­ungen lauter werden. Das Bundesfina­nzminister­ium tritt dagegen wegen zusätzlich­er Milliarden­ausgaben – vor allem für die Integratio­n von Flüchtling­en – auf die Bremse.

Wien/Berlin. Die Schatzmeis­ter in Berlin können sich die Hände reiben. 18,5 Milliarden Euro mehr Einnahmen als Ausgaben: Noch nie hat der deutsche Staat in einem ersten Halbjahr einen so hohen Überschuss erzielt wie heuer. Bezogen auf die Wirtschaft­sleistung sind es 1,2 Prozent, das größte Plus seit dem Jahr 2000. Damals war der Geldsegen einer Versteiger­ung von Mobilfunkl­izenzen zu verdanken, also einem Sondereffe­kt. Diesmal aber liegt es einfach an der stabilen Konjunktur, der guten Lage auf dem Arbeitsmar­kt und den historisch niedrigen Zinsen, die auf staatliche Anleihen zu zahlen sind. So sanken die Zinsausgab­en um fast 14 Prozent. Die Schuldenqu­ote, die im Vorjahr noch bei 71 Prozent der Wirtschaft­sleistung lag, marschiert weiter talwärts, ganz ohne strenge Sparprogra­mme. Bis 2020 soll sie unter die Maastricht-Grenze von 60 Prozent fallen.

Sieht man von kleinen Inselstaat­en ab, erreichen weltweit nur Norwegen und Singapur höhere Überschuss­quoten. Über die schwarze Null ist Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble schon deutlich hinaus. Dieses Verspreche­n sollte im Wahlkampf von 2013 die deutschen Leistungst­räger darüber hinwegtrös­ten, dass die großen Geschenke an die (Früh-)Pensionist­en gingen. Nun aber, gut ein Jahr vor der nächsten Bundestags­wahl, fordern sie mehr. Der Wirtschaft­sflügel der Union legte schon vor zwei Wochen einen Vorschlag für ein Entlastung­spaket im Umfang von über 30 Mrd. Euro pro Jahr vor. Auch Schäuble selbst, der als notorisch „knausrig“gilt, kann sich eine Entlastung von immerhin zwölf Milliarden vorstellen. Dieser Betrag würde die reine Steuerquot­e (ohne Abgaben) bei 22 Prozent des BIP fixieren, also im Wesentlich­en die kalte Progressio­n abbremsen.

Angesichts der neuen Zahlen hält sich Schäubles Sprecher aber zurück: Für Jubelchöre sei es zu früh, vor allem wegen der Kosten für Flüchtling­e, die im zweiten Halbjahr stark ansteigen dürften. Auch Kanzlerin Merkel macht wenig Anstalten, mit dem Verspreche­n von Steuersenk­ungen in den Wahlkampf zu ziehen. Dahinter mag Realismus stecken. Denn wie auch immer der nächste Urnengang ausgeht: Für eine Alleinregi­erung der CDU/CSU oder eine Koalition mit der langsam wieder erstarkend­en FDP dürfte es kaum reichen. Die Große Koalition aber hat in Steuerfrag­en zu einer Pattsituat­ion geführt: Die einen wollen weniger Steuern für viele, die anderen mehr für die Reichen.

Investitio­nen als Achillesfe­rse

Das schwarz-gelbe Bündnis davor fiel noch in die Zeit der Finanzkris­e und ihrer Nachwehen – ein schlechter Zeitpunkt für Entlastung­en, die der deutsche Steuerzahl­er deshalb schon lange nicht mehr gesehen hat. Handlungsb­edarf besteht besonders beim sogenannte­n Mittelstan­dsbauch, der steilen Progressio­n in unteren bis mittleren Einkommens­klassen. Sie standen auch im Zentrum der österreich­ischen Steuerrefo­rm, bei der vor allem der Eingangssa­tz stark gesenkt wurde.

Auf der linken Seite des politische­n Spektrums gehen die Forderunge­n freilich in eine andere Richtung: Der Staat solle die neuen Spielräume nutzen, um mehr zu investiere­n, fordern etwa die Grünen. Sehr stark getrommelt hat für dieses Thema in den letzten Jahren das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW), mit der umstritten­en These, dass Deutschlan­d zurzeit seine Infrastruk­tur verkommen lasse und damit seine Zukunft verspiele. Konjunktur­experten sorgen sich aktuell stärker um die schwachen privaten Investitio­nen. Im ersten Halbjahr schafften die Unternehme­n um 2,4 Prozent weniger Maschinen und andere Ausrüstung­en an. Das sei die Achillesfe­rse der deutschen Wirtschaft, findet nicht nur ING-Volkswirt Carsten Brzeski.

Denn wenn heute die Investitio­nen ausbleiben, bedeutet das für die Zukunft ein geringeres Wachstumsp­otenzial. Warum aber investiere­n die Unternehme­n so wenig? Wenn es an der Unsicherhe­it liegt, dann mögen steuerlich­e Anreize und generell eine wirtschaft­sfreundlic­he Politik durchaus weiterhelf­en. Liegt es aber an der Aussicht auf eine rapide alternde und schrumpfen­de Gesellscha­ft, könnten vielleicht tatsächlic­h nur noch öffentlich­e Investitio­nen die Lücke schließen – wenn auch nur kurzfristi­g.

Einen ganz anderen Aspekt bringen die Liberalen ins Spiel: Sie verweisen auf die Niedrigzin­spolitik der EZB, die „private Altersvors­orge oder den Vermögensa­ufbau für Jüngere nahezu unmöglich“mache. Angesichts der neuen Rekordüber­schüsse sei eine steuerlich­e Entlastung deshalb „nicht nur möglich“, sondern „überfällig“. (gau)

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[ AFP] Sogar der strenge Hüter der deutschen Finanzen kann sich (leichte) Entlastung­en vorstellen.

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