Verzweifelte Suche nach Überlebenden
Erdbeben in Italien. Die Zahl der Opfer hat sich über Nacht auf mehr als 240 erhöht. Unter den Toten sind auch viele Kinder. Premier Renzi verspricht einen raschen Wiederaufbau.
Warum unter den mehr als 240 Toten des Erdbebens in Mittelitalien so viele Kinder sind.
Rom. Die erste Nacht nach dem verheerenden Erdbeben in Mittelitalien ist vorbei. Hunderte haben sie in provisorischen Zeltstätten verbracht. Die Nächte in den Abruzzen sind kalt, selbst im August kann das Thermometer unter zehn Grad fallen. In ihre Häuser können viele Menschen nicht zurück. Selbst wenn sie noch stehen: Es wäre zu gefährlich, die Einsturzgefahr zu hoch. Wer schlafen konnte, durchlebte um 5.17 Uhr in der Früh wieder die Schrecken der vorherigen Nacht. Ein Nachbeben der Stärke 4,5 ließ erneut die Erde schwanken. Im Epizentrum Accumoli, bereits eine der vom ersten Beben am meisten betroffenen Kommunen, stürzten weitere Gebäude ein. 470 Nachbeben, die meisten von ihnen ein kurzes Schwanken des Erdbodens, soll es bereits gegeben haben.
Manche der einst 2600 Einwohner von Amatrice und den umliegenden Orten, die ebenfalls schwer beschädigt wurden, konnten bei Verwandten unterkommen. Doch für rund 1000 war die Zeltstadt der einzige Zufluchtsort. Die meisten Feriengäste, die sich in der Gegend aufhielten, sind in ihre Heimatorte zurückgekehrt.
Mehr als 240 Tote zählt der Zivilschutz am Donnerstag. Die Zahl hat sich über Nacht quasi verdoppelt. Wie viele Menschen in den Bergdörfern zum Zeitpunkt des schweren Bebens in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch waren, weiß keiner genau: Es ist Ferienzeit. Es könnten etwa zehnmal so viele Menschen in den betroffenen Kommunen sein, wie es Einwohner gibt, hat Premierminister Matteo Renzi am Mittwochabend gesagt. Viele Menschen aus den umliegenden Großstädten, die nicht ans Meer fahren, besuchen im Sommer Verwandte in den Bergen. Oder machen Urlaub in einem der Hotels. In vielen Familien ist es auch Brauch, die Enkel zu den Großeltern zu schicken – daher sind auch so viele Kinder unter den Toten.
Erste Priorität: Weitergraben
Renzi garantiert einen „echten“Wiederaufbau in naher Zukunft. Sein Versprechen: „Es wird nicht werden wie in L’Aquila. Wo man sich leider beim Wiederaufbau jahrelang verrannt hat.“Es werde auch keine New Town – Neubaugebiete – nach dem berlusconischen Modell geben. Silvio Berlusconi war Pre- mier, als in L’Aquila die Erde bebte und 309 Menschen starben. In wenigen Monaten, so Renzi, werde man tatkräftig an der Rekonstruktion arbeiten. Die Menschen würden bald in ihre Häuser im mittelalterlichen Stil zurückkehren können. Doch die erste Priorität liege zunächst darauf weiterzugraben. Der Premierminister lobte noch am Mittwochabend bei seinem Besuch in den Katastrophengebieten die enorme, schnelle und professionelle Arbeit der Helfer.
Auch wenn die Eindrücke der Katastrophe noch frisch sind – erste kritische Töne sind bereits zu hören. Italien ist das Land in Europa mit der höchsten Erdbebengefahr. Ein Fortsatz an der afrikanischen Erdplatte schiebt sich direkt unter dem Stiefel in die eurasische. Die Grenze zwischen den beiden Platten liegt quasi unter einem Teil des Abruzzischen Apennins. Bewegen sie sich, wackelt das Land. Die meisten der schweren Erdbeben Italiens lagen an dieser tektonischen Linie.
Dennoch sollen laut einem Bericht der Enea, der nationalen Agentur für neue Technologien, Energie und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, nur etwa 30 Prozent der Gebäude in Italien die Vorgaben für Erdbebensicherheit erfüllen. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Häuser älter als 50 Jahre sind und nicht nach modernen Standards gebaut wurden. Der Vorwurf: Werden alte Häuser restauriert, stehen hauptsächlich architektonische Aspekte im Vordergrund, die Ausbesserung von Schäden. Der fehlende Erdbebenschutz werde dabei nicht berücksichtigt.
Dabei rechnen Experten vor: Der Wiederaufbau solch zerstörter Orte wie nun Amatrice oder Accumoli koste fünfmal mehr als vor- beugende Maßnahmen an bestehenden Gebäuden. Doch auch seit der Katastrophe in L’Aqulia im April 2009 ist wenig bis gar nichts in diese Richtung passiert. 2013 kam bei einer landesweiten Untersuchung der Gesundheitsversorgung ans Tageslicht, dass rund 500 Krankenhäuser in Italien erdbebengefährdet sind. Leider, so betont die Enea, werde die Investition in Erdbebensicherheit eines Gebäudes nur unter dem Aspekt zusätzlicher Kostensteigerung betrachtet – und nicht als unerlässliches Element der Sicherheit. Ein weiteres Problem sind mangelnde Kontrollen. In Amatrice ist auch der Neubau einer Schule in sich zusammengefallen, die angeblich nach den Standards gebaut worden war. Sie galt als erdbebensicher.
Unvorhersehbares Beben
Eine verkehrte Welt: Italien zählt auf der wissenschaftlichen Ebene in der Erforschung von Erdbeben zur Avantgarde, rangiert gleich hinter Japan, China, Russland und den USA. Vorherzusehen sei das aktuelle Erdbeben in Italien allerdings nicht gewesen, sagen auch deutsche Wissenschaftler. In der Region seien jederzeit Erdbeben dieser Stärke möglich – ohne dass es zuvor messbare Hinweise geben muss. Manche Erschütterung kommt einfach wie aus dem Nichts.