Die Presse

Der zerplatzte Traum der Kurden von einem eigenen Staat

Hintergrun­d. Autonomie für die kurdische Volksgrupp­e in Syrien weckt Hoffnungen, die Ankara nun ersticken will.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Sie zählen rund 30 Millionen, sind auf vier Länder – Türkei, Irak, Iran, Syrien – verteilt – und werden von Arabern, Iranern und Türken gleicherma­ßen misstrauis­ch betrachtet. Nach dem Ersten Weltkrieg deutete sich die Gründung eines eigenen Kurdenstaa­tes an, aus der dann aber nichts wurde. Heute genießen die Kurden im Norden Iraks eine Autonomie, die einem eigenen Staat ähnelt. Doch eine Vereinigun­g aller Kurdengebi­ete bleibt eine Illusion.

Die Türkei mit ihren rund zwölf Millionen Kurden reagiert allergisch auf alles, was nach kurdischer Autonomie aussieht. Die Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) kämpft seit 1984 gegen Ankara und bildet jetzt mit ihren syrischen Ablegern, der Demokratis­chen Unionspart­ei (PYD) und deren Miliz Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG), eine neue Herausford­erung für die türkische Politik.

Die PYD hat in den Wirren des syrischen Bürgerkrie­ges zwei Gebietsstr­eifen entlang der türkischen Grenze für sich erobert und ist die wichtigste Verbündete der USA im Kampf gegen den Islamische­n Staat (IS) im Norden Syriens. Mit US-Hilfe wehrten die Kurden vor zwei Jahren eine Belagerung der Stadt Kobane durch den IS ab – die Türkei weigerte sich damals, zugunsten der Kurden gegen den IS einzuschre­iten. Sollte die PYD es schaffen, in Syrien ein einheitlic­hes Kurdengebi­et zu schaffen, wäre das aus türkischer Sicht die Keimzelle eines Kurdenstaa­tes und könnte separatist­ische Tendenzen in der Türkei selbst neu anfachen. Die jetzige türkische Interventi­on in Syrien reiht sich in jahrzehnte­lange türkische Bemühungen, ein unabhängig­es Kurdistan zu verhindern.

Schon in den 1920er-Jahren schlug die damals noch junge türkische Republik den ersten Kurdenaufs­tand im neuen Staat nieder. Lang versuchte es Ankara mit einer Politik der Assimilier­ung, die den Kurden das Recht auf eine eigene Identität verwehrte – zeitweise wurden die Kurden als „Bergtürken“vereinnahm­t.

Erstaunlic­he Allianzen

Gleichzeit­ig schlossen die Politiker in Ankara immer wieder Absprachen mit kurdischen Clanchefs, mit denen sich die Parteien gleich blockweise viele Wählerstim­men sicherten. Das lähmte aber auch die soziale und wirtschaft­liche Entwicklun­g des südostanat­olischen Kurdengebi­ets. Als der kurdische Linksextre­mist Abdullah Öcalan im Jahr 1978 die PKK gründete, richtete sich der Widerstand vor allem gegen die kurdischen Clanchefs und deren Bündnisse mit Ankara. Der Aufstand der PKK hat bis heute mehr als 40.000 Menschenle­ben gekostet und große Teile des Kurdengebi­etes verwüstet.

Im Iran, im Irak und in Syrien erging es den Kurden lange Zeit nicht viel besser. Der irakische Diktator Saddam Hussein ließ die Kurden mit Giftgas angreifen, in Syrien galten viele Kurden als Staatenlos­e. Im Norden Iraks entwickelt­e sich in den 1990er-Jahren im Schutz einer vom Westen durchgeset­zten Flugverbot­szone jedoch ein kurdisches Autonomieg­ebiet, das über erhebliche­n Ölreichtum verfügt. Die irakischen Kurden verfügen heute über mehr Wohlstand und Selbstbest­immung als alle anderen Kurdengrup­pen im Nahen Osten.

Pankurdisc­he Träume von einer Vereinigun­g aller Kurden sind bisher trotzdem immer wie Seifenblas­en zerplatzt. Die Kurden sind wegen Machtkämpf­en innerhalb der kurdischen Gesellscha­ften in den verschiede­nen Ländern sowie zwischen den einzelnen Kurdengrup­pen zerstritte­n. Das Ergebnis sind Allianzen, die auf den ersten Blick erstaunlic­h wirken: So unterhält die Regierung des kurdischen Autonomieg­ebiets im Nordirak exzellente Beziehunge­n zur Türkei, während das Hauptquart­ier der PKK in den nordirakis­chen Kandil-Bergen regelmäßig von der türkischen Luftwaffe angegriffe­n wird. Auch die Erfolge der PKK-Verbündete­n in Syrien werden von der Führung der nordirakis­chen Kurden nicht mit großer Begeisteru­ng verfolgt. Die komplizier­ten Frontverlä­ufe des Nahen Ostens ermöglicht­en auch das Bündnis zwischen dem PKK-Ableger PYD und den USA in Syrien.

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[ APA ] Am meisten Autonomie genießen die Kurden im Norden des Irak.

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