„Das gab es nicht einmal im Kalten Krieg“
Interview. Ex-Nato-Generalsekretär Rasmussen über russische Drohungen mit Atomwaffen, die Militarisierung der Krim und die Führungsschwäche der USA in Syrien.
Die Presse: Sie sind Präsidentenberater in der Ukraine, was Moskau als „feindliche Geste“wertet. Zuletzt unterstellte Russland der Ukraine, Anschläge auf die Krim durchgeführt zu haben. Ist die Minsk-Vereinbarung zur Beilegung des UkraineKonflikts tot? Anders Fogh Rasmussen: Ich würde sagen, sie ist ziemlich knapp davor, völlig zu scheitern. Und zwar wegen der russischen Aggression. Wir haben gesehen, dass Russland die Krim militarisiert. Zuletzt hat es Kräfte auf der Krim und entlang der ukrainischen Grenze mobilisiert. Das Minsk-Abkommen zielt aber darauf ab, dass die ukrainische Regierung volle Kontrolle über die Grenze zu Russland erhält. Russland arbeitet in die entgegengesetzte Richtung. Der Konflikt löste eine neue Ost/West-Krise aus. Die Nato-Ostflanke wird aufgerüstet, es gibt mehr Manöver. Deutschlands Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, kritisierte die Nato deshalb, sprach von Säbelrasseln und Kriegsgeheul. Da stimme ich nicht zu. Die Nato hat in keiner Weise mit dem Säbel gerasselt. Es waren angemessene Schritte, um alle möglichen Gegner vor Angriffen auf jedes einzelne Nato-Mitglied abzuschrecken. Und das ist die Essenz eines Bündnisses.
An dem Wettrüsten sind auf beiden Seiten Atommächte beteiligt. Russland führt gemeinsame Übungen mit nuklearen und konventionellen Waffen durch. Auch in der Nato gibt es eine Debatte, solche Manöver abzuhalten. Sind Sie dafür? Es ist bedrohlich, dass Russland die nukleare Dimension so oft erwähnt. Drohungen mit Nuklearwaffen gab es nicht einmal im Kalten Krieg, in der kommunistischen Diktatur. Ich finde es also ziemlich verstörend, dass die politische Führung in Moskau dieses Thema ge- legentlich in einer sehr drohenden Art und Weise aufbringt. Zu Ihrer Frage: Ich bin sicher, die Nato-Führung wird alle Übungen durchführen, die sie für notwendig erachtet, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Der Kreml ist auch in Syrien im Geschäft. Russland hat dort zwei Ziele: Es will sich als Machtfaktor im Nahen Osten festsetzen und das Assad-Regime am Leben erhalten, was den Konflikt nur fortsetzen wird. Denn die Wurzel des Konflikts ist die Brutalität des Assad-Regimes. Solange Assad an der Macht ist, lässt sich der Konflikt nicht stoppen.
Die USA fliegen Luftangriffe gegen den IS. Sollen sie moderate Rebellen auch im Kampf gegen Assad stärker unterstützen? Die USA sollten sich weiter auf den Kampf gegen den IS fokussieren, aber zusätzlich alle Gruppen der moderaten Opposition unterstützen, darunter auch jene, die vor allem gegen das Assad-Regime kämpfen.
Aber soll die Unterstützung für die moderate Opposition verstärkt werden? Ja, die Erfahrung lehrt, wie wichtig es ist, der moderaten Opposition zu helfen.
Sie nannten es ein „Desaster“, dass USPräsident Obama 2013 eine rote Linie gezogen hat und dann nicht eingriff, als sie von Assad durch den mutmaßlichen Chemiewaffeneinsatz überschritten wurde. Weil es der Glaubwürdigkeit der USA geschadet hat. Als Obama dann doch mit einem Militärschlag drohte, musste sich Syrien entscheiden und gab seine Chemiewaffen auf. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was US-Führungsstärke bewirkt. Der Rest ist die bedrückende Geschichte, was geschieht, wenn die USA nicht führen.
Ihre umstrittene These ist, dass nicht die US-Militärinterventionen, sondern der Abzug der US-Truppen schuld am Chaos im Nahen Osten ist. War also die Politik von George W. Bush in der Region besser als jene von Barack Obama? 2011 war der Irak relativ stabil. Dann entschieden die USA (unter Obama), ihre Truppen abzuziehen. Die irakische Regierung startete eine sehr sektiererische Politik, die Sunniten in die Hände von Extremisten trieb. Es war also nicht Präsident Bush, es war die sektiererische Politik der irakischen Regierung, die den Boden für den IS bereitet hat.
Warum hat Obama damals nicht sofort eingegriffen, als der IS sich ausdehnte? Es gab keine einfachen Lösungen. Syrien ist ethnisch, politisch, religiös tief gespalten. Eine Intervention westlicher Truppen hätte daher eine Explosion in der ganzen Region auslösen können. Wir diskutierten damals auch, die moderate Opposition aufzurüsten. Doch da gab es das Risiko, dass die Waffen in den falschen Händen landen. Ich war selbst Teil der Diskussion damals, trage einen Teil der Verantwortung. Im Rückblick war es eine falsche Entscheidung, nichts zu tun. Denn der Preis dafür war viel höher. Vergleichen Sie Syrien und den Irak: In Syrien gibt es 250.000 Tote, mehr als 10 Mio. Flüchtlinge.
Der Irak war aber schon deutlich stabiler als heute, wenn auch unter einem Diktator. Dann zogen die USA 2003 in den Krieg. Mir geht es um Freiheit. Unterdrückung loszuwerden mag kurzfristig für Chaos sorgen. Auf lange Sicht sichert nur Freiheit Stabilität.
Themenwechsel: Das Nato-Mitglied Türkei führt „Säuberungswellen“durch. Kanzler Christian Kern will nun die EUBeitrittsverhandlungen abbrechen. Das halte ich für den falschen Weg. Es ist nötig, dass sich die EU klar gegen das exzessive Vorgehen gegen die Opposition ausspricht. Man kann diese Botschaften nur übermitteln, wenn man die Gespräche weiterführt.