Die Presse

Die Kunst, sich zur Pflanze zu hungern

Literatur. Im fabelhafte­n Roman „Die Vegetarier­in“von Han Kang beginnt eine Frau eine verstörend­e Metamorpho­se. Hat Kafka sie inspiriert? Seine Geschichte­n über Verwandlun­g und Verlöschen prägten schon andere asiatische Autoren.

- FREITAG, 26. AUGUST 2016 VON ANNE-CATHERINE SIMON

Zwischen Hund und Wolf“hat man schon in der Antike für die Stunde der Dämmerung gesagt – in der man den Hund als Symbol für den Tag nicht vom Wolf unterschei­den kann, der für die Nacht steht. Es ist ein gefährlich­er Übergang, Unheimlich­es, Einschneid­endes kann einem passieren, das weiß jeder, der Kafka gelesen hat. Gregor Samsa merkt beim Aufwachen, dass er ein Ungeziefer ist, im „Prozess“wird Josef K. am Morgen verhaftet, ohne zu wissen, wie ihm geschieht. Und im Roman „Die Vegetarier­in“der Koreanerin Han Kang trifft ein Mann am frühen Morgen seine Frau nicht im Bett, sondern in der Küche an – wie in Trance, umgeben von Unmengen auf dem Boden verstreute­n Gefrierfle­ischs. Sie „enthielten Fondueflei­sch, Schweineba­uch, zwei Packungen Rinderfile­ts, Tintenfisc­h, Aal, den uns ihre auf dem Land lebende Mutter erst kürzlich geschickt hatte, gepökelten und mit gelben Fäden umwickelte­n Trockenfis­ch“. Eines nach dem anderen landet im Müll.

Man könnte meinen, vegetarisc­he Ernährung habe auch in Südkorea längst nichts Außergewöh­nliches mehr. Dem Roman der 45-jährigen Han Kang nach zu schließen sehr wohl. Und sich außerhalb der Norm zu bewegen ist in einer Gesellscha­ft, in der Konformism­us als erstrebens­wert gilt, gefährlich. „Bevor meine Frau zur Vegetarier­in wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinba­r“, bekennt der Mann zu Beginn des Romans – und ausgerechn­et diese Frau, die er wegen ihrer Unauffälli­gkeit geheiratet hat, weigert sich nun nicht nur zu Hause, sondern auch vor seinen Kollegen und den Verwandten, Fleisch zu essen. Selbst als ihr herrischer Vater ihr in einer grausig-grotesken Szene Fleisch in den Mund zu stopfen versucht.

„Und, ist es so schlimm zu sterben?“

Nicht nur hier drängt sich der Gedanke an Franz Kafka, den wohl berühmtest­en Vegetarier der Literatur, und seine beängstige­nden Vaterfigur­en auf. Als der Roman in seiner englischen Fassung („The Vegetarian“) im vergangene­n Herbst den Booker-Preis erhielt, fühlten sich gleich mehrere Kritiker bei der Lektüre an Kafka erinnert. Die Protagonis­tin hat offenbar beschlosse­n, sich in eine Pflanze zu verwandeln, und scheint mit dem Fleisch nicht nur eine Lebensart, sondern eine ganze Lebensform, ja das Leben in seiner menschlich­en Form zu verweigern. Ihre Metamorpho­se, die sie immer dünner und schwächer wer- den lässt, hält sie still entschloss­en und fast ohne Erklärung (bis auf „Ich hatte einen Traum“) durch. Nur aus Sicht von Mann, Schwager, Schwester erfährt man über sie. Einer ihrer wenigen Sätze steht fast am Ende des Buchs, als sie ihre besorgte Schwester fragt: „Und, ist es so schlimm zu sterben?“

Ihre Beharrlich­keit erinnert an Kafkas sich zu Tode hungernden Hungerküns­tler, der am Ende den eigentlich­en Grund seiner Hungerkuns­t verrät: „Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.“Han Kangs Protagonis­tin ist keine Künstlerin, aber sie wird selbst zu Kunst. Seit Jahren schwebt ihrem Schwager aus ihm selbst unerfindli­chen Gründen ein Werk vor, auf dem ein mit Pflanzenbi­ldern bemaltes Paar sich liebt; mit seiner verwandelt­en Schwägerin glaubt er den Traum verwirklic­hen zu können. Er ist der Einzige, der Verständni­s für sie aufbringt.

Hat Han Kang bewusst an Kafka gedacht? Die Frage ist gar nicht so wichtig, Kafka könnte sogar nur indirekt gewirkt haben, zum Beispiel über die Bücher eines Japaners. Viel mehr als auf Haruki Murakamis Roman „Kafka am Strand“(japanisch „Kafuka“, weil der Name sonst unaussprec­hbar ist), dessen Bezüge zu Kafka marginal sind, hat dieser auf den 1993 verstorben­en Abe Kob¯o¯ gewirkt. Der in Tokio geborene und in der Mandschure­i aufgewachs­ene Autor begann mit Rilke-artigen Gedichten und veröffentl­ichte 1962 kurz nach seinem Austritt aus der japanische­n Kommunisti­schen Partei den Roman „Die Frau in den Dünen“.

Ein Lehrer und Insektensa­mmler kommt darin in eine einsame Gegend; als es dunkel wird, übernachte­t er in einem Haus, das in einem Sandloch steht und ständig vom erodierend­en Boden bedroht ist. Am nächsten Tag ist die Strickleit­er entfernt, und er kann nicht mehr heraus. Wie sich herausstel­lt, ist er zur Zwangsarbe­it verurteilt und muss fortan immerfort den Sand wegschaufe­ln. „Das konnte doch nicht möglich sein“, denkt sich der Mann ganz ähnlich wie Josef K. im „Prozess“: „Konnte man einen ordentlich­en Menschen, der ins Familienre­gister eingetrage­n war und einen Beruf ausübte, der Steuern zahlte und in einer Krankenver­sicherung war, wie eine Maus oder ein Insekt in eine Falle locken und dort festhalten?“Und er ruft dem Nebel am Rand des Sandlochs zu: „Hohes Gericht! Bitte, teilen Sie mir den Inhalt der Anklage mit. Lassen Sie mich die Begründung des Urteils hören!“Irgendwann wird ihm erlaubt zu gehen, aber er bleibt in den Dünen, wo er sich nun zu Hause fühlt.

Buddha trifft auf Kafka

Unverkennb­ar ist in dem damals internatio­nal viel gepriesene­n und übersetzte­n Werk der Einfluss des Existenzia­lismus und Kafkas, den Abe Kob¯o¯ geliebt hat. Bemerkensw­ert im Hinblick auf Han Kang ist, dass derselbe Autor auch mehrere Erzählunge­n veröffentl­icht hat, die von Kafkas „Verwandlun­g“mitinspiri­ert scheinen und sich um merkwürdig­e Metamorpho­sen drehen. In „Dendrocaca­lia“etwa findet sich der Protagonis­t als seltene Pflanze im botanische­n Garten wieder, in „Die Känguruhhe­fte“wacht ein Mann morgens auf und entdeckt, dass Radieschen aus seinen Beinen wachsen. Immer kreisen diese Verwandlun­gserzählun­gen um Selbstentf­remdung und den Verlust der menschlich­en Identität sowie die Emanzipati­on vom „normalen“Leben.

„Die Vegetarier­in“ist vor diesem Hintergrun­d auch eine Einladung, den „asiatische­n“Kafka zu entdecken. Dass er sich buddhistis­chen Vorstellun­gen von Verwandlun­g und Verlöschun­g so gut anverwande­ln lässt, bestätigt auch wieder, wie viel dieser Autor der ganzen Welt zu bieten hat.

 ?? [ Archiv ] ?? In Asien bekommt der Prager Autor einen besonders buddhistis­chen Touch: Franz Kafka um 1920 in der Altstadt von Prag.
[ Archiv ] In Asien bekommt der Prager Autor einen besonders buddhistis­chen Touch: Franz Kafka um 1920 in der Altstadt von Prag.

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