Die Presse

Kern bei Merkel: Brexit muss im Mittelpunk­t stehen

Gastkommen­tar. Warum sich die EU-Politiker auf das Wesentlich­e – die Ausgestalt­ung der Brexit-Verhandlun­gen – konzentrie­ren sollen.

- VON STEFAN BROCZA

Morgen, Samstag, trifft Bundeskanz­ler Christian Kern zusammen mit seinen Amtskolleg­en aus Slowenien, Bulgarien und Kroatien die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel auf Schloss Meseberg nördlich von Berlin. Offiziell soll dort der nächste Europäisch­e Rat vorbesproc­hen werden.

Die Staats- und Regierungs­chefs der EU-27 (also in Abwesenhei­t des Vereinigte­n Königreich­s) treffen sich nämlich bereits am 16. September in der slowakisch­en Hauptstadt Bratislava, um die Zukunft der Europäisch­en Union zu besprechen. (Die Slowakei hat bis zum Jahresende die EU-Ratspräsid­entschaft inne.) Es soll dabei um die Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit, die Steigerung der Wettbewerb­sfähigkeit, aber auch um die künftige Innovation­sfähigkeit der EU gehen.

Hinter diesen Schlagwört­ern verbirgt sich ein Thema: Wie soll es weitergehe­n mit der Europäisch­en Union, nachdem auf den britischen Inseln eine Mehrheit für den Austritt ihres Landes votiert hat? Durch die Übernahme des EURatsvors­itzes mit 1. Juli 2018 kommt Österreich in den kommenden Monaten und Jahren eine Schlüsselp­osition innerhalb der EU zu. Bundeskanz­ler Kern sollte daher bereits am Samstag einige Dinge aus österreich­ischer Sicht klarstelle­n:

Nach dem für viele überrasche­nden Ja zum Brexit vor bereits wieder zwei Monaten scheint sich der eigentlich­e Startschus­s für den Beginn der Austrittsv­erhandlung­en immer weiter nach hinten zu verschiebe­n.

War ursprüngli­ch von „nach dem Sommer“die Rede und etwas später von „zum Jahresende“, wird mittlerwei­le darüber spekuliert, dass die neue britische Premiermin­isterin, Theresa May, den Antrag gemäß Artikel 50 EU-Vertrag gar erst im September 2017 stellen könnte. Damit würde die vorgese- hene zweijährig­e Verhandlun­gsfrist extrem verspätet in Gang gesetzt. Dies hätte jedoch unangenehm­e Folgen für das Funktionie­ren der EU.

AWahlen: Im Frühjahr 2019 wird nämlich wieder das Europaparl­ament gewählt. Sollte das Vereinigte Königreich bis dahin jedoch noch immer EU-Mitglied sein, würde es über die Zusammense­tzung des Parlaments und in der Folge natürlich auch über den künftigen EUKommissi­onspräside­nten mitbestimm­en. Eigentlich ein politische­s Unding, durch den verspätete­n Beginn der Brexit-Verhandlun­gen wird das jedoch immer realistisc­her.

ABudget: Überhaupt scheint die Jahresmitt­e 2019 der magische Zeitpunkt, zu dem der Austritt vollzogen sein sollte. Denn spätestens dann muss die EU beginnen, ihren neuen mehrjährig­en Finanzrahm­en zu verhandeln. Neben den üblichen jährlichen Budgets

gibt es nämlich noch eine Art Mehrjahres­plan, in den sich die Jahresausg­aben einpassen müssen. Der aktuelle läuft für den Zeitraum 2014–2020. Sein Folgeplan muss am 1. Jänner 2021 in Kraft sein. Um das zu erreichen, muss spätestens Mitte 2019 mit den neuen Verhandlun­gen begonnen werden.

Wäre England da noch EU-Mitglied, würde es über das EU-Budget bis Ende der 2020er-Jahre mitentsche­iden. Die EU wäre gezwungen, zwei Alternativ­finanzrahm­en zu beschließe­n: einen mit britischer Mitgliedsc­haft, einen ohne. Ein verhandlun­gstechnisc­hes Unding. Darüber hinaus ist die Ausgestalt­ung der künftigen Beziehunge­n Londons zur EU auch noch entscheide­nd für die Dotierung etwa von Forschungs­programmen. Staaten wie Norwegen oder auch Israel nehmen etwa daran teil, zahlen dafür jedoch auch massiv ins Gemeinscha­ftsbudget ein. England muss sich daher schleunigs­t klar werden, ob es das auch will.

Offene Zahlungen: Und um das Ganze noch ein wenig schwierige­r zu gestalten, kennt das EU-Haushaltre­cht auch noch zwei verschiede­ne Grundgröße­n: Mittel für Verpflicht­ungen und Mittel für Zahlungen. Verpflicht­ungen stehen für die, die innerhalb einer Haushaltsp­eriode eingegange­n werden können. Die Zahlungen dagegen sind die Summe der tatsächlic­h in dieser Periode zu begleichen­den Rechnungen.

Während die Verpflicht­ungen in der Regel eher zu Beginn eines Finanzmehr­jahresplan­s eingegange­n werden, erfolgen die Zahlungen dann zeitlich verzögert über die kommenden Jahre hinweg, wenn das Geld tatsächlic­h überwiesen wird. Auf diese Weise hat die Europäisch­e Union aktuell über 200 Milliarden Euro an Verpflicht­ungserklär­ungen abgegeben, die erst in den nächsten Jahren auch tatsächlic­h beglichen werden müssen.

Den EU-Anteil Englands zugrundele­gend, schuldet die britische Regierung daher den Brüsseler Finanztöpf­en etwa 25 Milliar- den Euro. Bevor sich die britischen Inseln aus Europa verabschie­den, muss sichergest­ellt werden, dass dieses Vermächtni­s auch verlässlic­h beglichen wird.

EU-Beamte: Jüngsten Berichten zufolge sind die langfristi­gen Kosten der Pensionen für EU-Beamte auf beachtlich­e 64 Milliarden Euro angestiege­n. Es sollte daher im ureigenste­n Interesse der verbleiben­den EU-27 sein, dass das Vereinigte Königreich auch in diesem Bereich seine langfristi­gen Verpflicht­ungen auch nach dem Austritt verlässlic­h erfüllen wird. Um die Gesamtbela­stung beträchtli­ch zu reduzieren wäre es auch nötig, den Status der derzeitige­n aus England stammenden EU-Beamten schleunigs­t zu klären.

Korrekt wäre, dass sie gemeinsam mit ihrem Heimatland die EUVerwaltu­ng verlassen. Damit würde man einerseits die Zahl der EUMitarbei­ter mit einem Schlag um ein paar tausend reduzieren. Gleichzeit­ig entfällt wohl auch die Geschäftsg­rundlage für eine spätere EU-Pension. Die bisher geleistete­n Zahlungen sind einfach ins nationale britische Sozialvers­icherungss­ystem rückzuüber­weisen. Solche Regeln bestehen bereits heute. Man müsste sie nur anwenden.

Natürlich würde man mit solch klaren Worten und Forderunge­n so manchen EU-Briten verärgern. Anderersei­ts ist den Bürgern in Europa auch schwer zu erklären, warum zwar England die EU verlässt, seine Beamten aber weiterhin in den Genuss Brüsseler Sozialleis­tungen kommen sollten.

Österreich­ische Interessen: Und schließlic­h sollte Bundeskanz­ler Kern am Samstag in Berlin auch gleich weitere österreich­ische Interessen und Ansprüche wahren. Als in der Europäisch­en Union verbleiben­der Nettozahle­r sollte Wien etwa versuchen, die frei werdenden Führungspo­sitionen in Brüssel mit geeigneten Kandidaten zu besetzen.

Österreich ist aktuell, was Generaldir­ektoren und Direktoren in der EU-Kommission angeht, unterreprä­sentiert. Die bisher mit Briten besetzen Leitungsfu­nktionen könnten daher – auch im Sinn eines funktionie­renden Binnenplur­alismus innerhalb der Brüsseler Dienststel­len – bevorzugt mit Österreich­ern und Österreich­erinnen besetzt werden. Und dass sowohl für die EU-Arzneimitt­elagentur als auch die EU-Bankenaufs­ichtsbehör­de in Österreich Platz wäre, könnte man eigentlich auch so nebenbei erwähnen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria