Die Presse

Im französisc­hen Kino lohnt sich Verbrechen

Retrospekt­ive. Zum Saisonauft­akt dokumentie­rt das Filmmuseum die Entwicklun­g des Kriminalfi­lms in Frankreich von 1958 bis 2009: „Wahl der Waffen“reicht von Klassikern wie Godards „Außer Atem“bis zur Avantgarde wie Bessons „Nikita“.

- VON ANDREY ARNOLD Bis 12. Oktober; www.filmmuseum.at

Der Kriminalfi­lm ist nicht totzukrieg­en. Solange es Gesetz und Gesellscha­ft gibt, wird er deren Grauzonen ausloten, Recht und Unrecht ins Dämmerlich­t setzen, die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen und neu austariere­n. Dass Frankreich eine besonders reichhalti­ge Krimitradi­tion hat, ist bekannt. Die Gattungsbe­zeichnung „Polar“– ein Kompositum aus den französisc­hen Begriffen für Exekutive („police“) und Gaunerspra­che („argot“) – steht für alles, was dort in der Literatur und auf der Leinwand mit Verbrechen und Strafe zu tun hat. Die Popularitä­t des Genres blieb lange ungebroche­n – im Jahr 1981 etwa konnte ein Viertel der gesamten Filmproduk­tion Frankreich­s dem Polar zugerechne­t werden.

Doch die Bilderstür­mer der Nouvelle Vague und ihr radikales Dekonstruk­tionsprogr­amm haben den filmhistor­ischen Blick ab den Sechzigern so in Beschlag genommen, dass viele spätere Polar-Perlen in Vergessenh­eit gerieten – dabei waren Godard, Truffaut und Co. vom Genre inspiriert und haben zu dessen Weiterentw­icklung beigetrage­n. „Wahl der Waffen“, die Eröffnungs­schau der neuen Saison des österreich­ischen Filmmuseum­s – der letzten unter der Leitung von Alexander Horwath –, setzt die Spurensuch­e der vergangene­n Herbst gezeigten „Noir/Polar“-Retrospekt­ive fort und dokumentie­rt die Mutationen und Evolutione­n des französisc­hen Kriminalfi­lms von 1958 bis 2009.

Unerbittli­che Schicksals­maschineri­e

Dabei fällt vor allem eines auf: Es geht immer noch härter, noch kälter, noch fatalistis­cher. Das klassische Muster von Normverlet­zung und Ahndung ist in dieser Schau die absolute Ausnahmeer­scheinung. Bezeichnen­d ist das sich zunehmend abstrahier­ende Werk des Gangsterfi­lmgotts Jean-Pierre Melville: Seine mythischen Trenchcoat­träger stecken in einer unerbittli­chen Schicksals­maschineri­e, der Tod gerät für Alain Delons wortkarge Figur in „Der eiskalte Engel“zum letztmögli­chen Triumph. Vertrauen ist eine Illusion: „Wenn man zu zweit ist, gibt es einen Verräter“, sagte der von seiner Resistance-´Zeit geprägte Regisseur in einem Interview.

Die Unabhängig­keit Melvilles als Filmemache­r war Vorbild für die Nouvelle Vague. In ihrer Initialzün­dung, Jean-Luc Godards „Außer Atem“, hat er sogar einen Gastauftri­tt. Stilistisc­h schlugen die jungen Wilden aber andere Wege ein: Francois¸ Truffaut schuf verspielte Hommagen an Hitchcock („Die Braut trug schwarz“, mit Jeanne Moreau als rächende Witwe) und den US-amerikanis­chen Film noir („Schießen Sie auf den Pianisten“), während Claude Chabrol es sich zur Aufgabe machte, die Fäulnis hinter den Fassaden des Bürgertums ans Licht zu bringen („Der Schlachter“, „Das Biest muss sterben“).

„Außer Atem“– nominell ein Genrestück – verdankt der Polar auch die Entdeckung Jean-Paul Belmondos. Melville soll gesagt haben, im Kriminalfi­lm der Siebziger gäbe es nur zwei Formate – Belmondo und Delon. Ersterer war dank seiner markanten Gesichtszü­ge und seinem schroffen Charisma wie geschaffen für die Darstellun­g draufgänge­rischer Macho-Bullen und reüssierte kommerziel­l vor allem in actionreic­hen Polizeifil­men wie „Angst über der Stadt“. Delon hin- gegen spielte seit seiner Durchbruch­srolle als amoralisch­er Parvenü Tom Ripley in Rene´ Clements´ Patricia-Highsmith-Adaption „Nur die Sonne war Zeuge“überwiegen­d introverti­erte Figuren, seine Schönheit wurde immer mehr zu einer harten Schale.

Kompromiss­lose Schwarzmal­ereien

Abseits der Starvehike­l erstarkte nach 1968 – befeuert durch den Verlust politische­r Utopien – die explizit sozialkrit­ische Traditions­linie des Polar. Besonders Yves Boisset ging in seinen angriffige­n Thrillern hart mit der Grande Nation und ihren Institutio­nen ins Gericht: In „Un conde“´ fungiert die blindwütig­e Vendetta eines skrupellos­en Polizisten als Sinnbild einer verfallene­n Rechtsstaa­tlichkeit – der damalige Innenminis­ter bemühte sich (vergeblich) um ein Verbot des Films. Später bezog sich Boisset immer wieder auf reale Polit-Skandale und ließ seine einsamen Helden im konspirati­ven Korruption­ssumpf versinken. Kompromiss­lose Schwarzmal­ereien wie „Le Juge Fayard dit Le Sheriff“´ sind Zeugnisse vom „Verfolgung­swahn einer Gesellscha­ft auf dem Weg zum Überwachun­gsstaat“, wie es Filmhistor­iker Hans Gerhold formuliert. Autorenfil­m-Einzelgäng­er Jean-Pierre Mocky setzte indes auf anarcho-romantisch­e Gesten, um den herrschend­en Verhältnis­sen den Stinkefing­er zu zeigen: Im fantastisc­hen Finale von „L’Albatros“gibt sich ein von der Polizei Umzingelte­r noch einem letzten Liebesakt hin, seine Häscher starren neidisch auf die kopulieren­den Silhouette­n.

Anders äußert sich die soziale Desillusio­nierung in der Jim-Thompson-Verfilmung „Serie´ noire“von Alain Corneau, einem der letzten großen Polar-Meister. Darin zerschelle­n die Selbstverw­irklichung­sfantasien eines psychotisc­hen Vertreters (ein Ereignis: Patrick Dewaere) an der unwirtlich­en Wirklichke­it im Ödland der Banlieue. Später versuchte Corneau in „Wahl der Waffen“, die Schicksals­schwere Melvilles mit stilisiert­em Naturalism­us – und Gerard´ Depardieus wilder Schauspiel­wucht – kurzzuschl­ießen. Je mehr der klassische Kriminalfi­lm an Bedeutung verlor, desto deutlicher wurde sein Einfluss: Polar-Versatzstü­cke finden sich in exaltierte­n Kunstexplo­sionen eines Leos Carax („Mauvais sang“) ebenso wie in Pop-Unterhaltu­ng a` la Luc Besson („Nikita“). Und der auf Gangsterme­lodramen fußende Aufstieg eines Regisseurs wie Jacques Audiard in das Arthaus-Pantheon belegt: Im französisc­hen Kino lohnt sich Verbrechen immer noch.

 ?? [ Filmmuseum] ?? Jeanne Moreau als rächende Witwe in Truffauts „La mariee´ etait´ en noir“(1967).
[ Filmmuseum] Jeanne Moreau als rächende Witwe in Truffauts „La mariee´ etait´ en noir“(1967).

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