Kinder-Universum, einst und jetzt
Kultursommer Semmering. Otto Brusatti inszenierte durchdacht und möglichst kitschfrei die Uraufführung von Anton von Weberns Theaterstück „Tot“: Ein spannendes Erlebnis.
Ein Paar wandelt bei Mondenschein durch die Nacht. Die Frau gesteht dem Mann, dass sie ein Kind von einem anderen erwartet. Der Mann verzeiht ihr. Ob Arnold Schönberg mit der Story zu seinem Streichsextett Pate stand für „Tot“, das Drama seines Schülers und Weggefährten Anton von Webern? Die Geschichte ist ähnlich, auch in „Tot“geht es um ein Paar und um ein Kind, doch das Kind ist gestorben. Otto Brusatti, Musikwissenschaftler, Radiohörern wohlbekannt, hat auch in Weberns Werk genau hineingehorcht. Donnerstagabend wurde „Tot“im Kurhaus am Semmering beim dortigen Kultursommer uraufgeführt.
In sechs Bildern wird hier ein wahres Universum aufgeblättert, wie sich Kinder auf eine Beziehung auswirken: Die liebende Annäherung zweier Menschen, die Erfahrung des Wachsens eines neuen Wesens, die Verantwortung, die Freude, die Last – und wie man mit der Katastrophe des Verlusts zurechtkommt. Heute ist das zum Glück eine seltene Erfahrung geworden. Früher verband sie die Klassen: dass Kinder starben, traf Reiche wie Arme. Weberns Paar brütet in einer Bauernstube, da erscheint der Knabe, hier ein Mädchen, es geht ihm gut, berichtet er, die Eltern mögen doch bald nachkommen. Die beiden erklimmen hohe Berge, wo Alpenrosen auf weißen Felsen blühen. Dem Himmel näher zu sein, tröstet ihn mehr als sie. Er preist blumig-forsch die schöne Gegend, sie beginnt zu schluchzen. Auf dem Friedhof trifft sie den Schutzengel ihres Sohnes, zuletzt umklammert sie den Mann . . .
Anton von Webern (1883–1945), Sohn eines erfolgreichen Bauingenieurs, gehörte wie Alban Berg zum inneren Kreis der Zweiten Wiener Schule um Schönberg, der die Zwölftontechnik entwickelte. Was für den Laien wie „Katzenmusik“klingt, erzählt von den Dissonanzen des Fin de Si`ecle: Wirtschaftliche Blüte einerseits, Verlust von Werten, Orientierung andererseits, großer Reichtum, großes Elend, auch seelisch. Viele Bürgersöhne suchten Zuflucht in der Kunst.
Schubert, Schlager, schrille Jodler
Schnitzler schrieb die „Traumnovelle“, auch hier kommt symbolhaft für Frieden und Reinheit ein Kind vor. Die Geschichte war vor Jahren bei den Festspielen Reichenau im Südbahnhotel zu sehen, das nahe dem Kurhaus steht und aussieht wie eine Festung, in der sich die Wohlhabenden vor Krankheit und Elend verschanzten. Auch das Kurhaus war so eine „Burg“, aber es wirkt luftiger, moderner mit seinen riesigen Fenstern, die den Gästen eine Art Naturfilm boten. Webern verband die Naturmystik der Romantik mit der Moderne. Sein Stück ist autobiografisch. Es erzählt auch von der Entfremdung, die zwischen Paaren nach der Geburt eines Kindes oft eintritt. „Die eheliche Liebe, das ist die Liebe zum Kind“, heißt es einmal. Die sexuellen Bedürfnisse des Mannes werden zweitrangig – er sucht Trost bei Geliebten, Prostituierten. Hat sich da viel verändert?
Brusatti wusste um den Kitsch und das Pathos des schlichten Textes. Er hat eine großartige Collage in Wort und Ton komponiert, in der die szenischen Anweisungen vorgetragen werden – und es somit dem Betrachter überlassen bleibt, wie er sich die symbolgeladene Szene zu diesem Spiel vorstellt – mit Edelweiß, Quelle, Betstuhl oder Gräbern. Wie bei Horvath´ sind Pausen und Stille sehr wichtig im Text. Manchmal geht es etwas zu lautstark zu – bei Musik der Gruppe Mischwerk, die Werke von Webern und Schubert zu einer wilden Melange mit Jodlern und Schlagerfetzen verbunden hat.
Bernhard Majcen und Anna-Sophie Fritz spielen das Paar, schick für die Berge angezogen, das passt zu damals wie heute. Tanja Dihanich gibt den Engel und den Knaben – und Tristan Jorde erzählt. Rund, informativ, berührend ist diese Aufführung, die stürmischen Applaus erntete und noch heute, Samstag, zweimal zu erleben ist.