Die Presse

Einwanderu­ngsquoten für jüdische Flüchtling­e

Zeitgeschi­chte. Knapp 1000 österreich­ische Juden wanderten in der Zwischenkr­iegszeit nach Palästina aus, nach dem Anschluss 1938 flohen mehr als 15.000 dorthin – oft zufällig und ungewollt: Palästina war für sie einziger Zufluchtso­rt.

- Mehr:

Ein junger Mann wartet in einem ihm unbekannte­n Hafen auf Fischer, die sich auf Menschen- und Waffenschm­uggel spezialisi­erten. Diese pferchen ihn mit vielen anderen Menschen auf einen ausgedient­en Kutter. Ohne richtige Verpflegun­g und unter miserablen sanitären Verhältnis­sen tritt er nachts die mehrere Tage dauernde Reise über die offene See an. Als er Leuchtsign­ale an einer Küste entdeckt, schnappt er seinen Rucksack und seine Geige und kämpft sich mit einem Rettungsbo­ot durch die Brandung in Richtung Küste.

Eine Geschichte, die im jungen 20. Jahrhunder­t, aber auch heute spielen könnte. Ein Schauplatz war und ist das Mittelmeer. „Damals wie heute waren Menschen aus unterschie­dlichen Gründen dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Damals wie heute versagte die internatio­nale Politik“, sagt Victoria Kumar, Historiker­in am Centrum für Jüdische Studien der KarlFranze­ns-Uni Graz. In ihrem vom Studienver­lag publiziert­en Buch „Land der Verheißung – Ort der Zuflucht“widmet sie sich der Flucht österreich­ischer Juden nach Palästina von 1920 bis 1945.

Steirer nimmt die Balkanrout­e

Kumar übersieht dabei nicht die Kontinuitä­ten zu heutigen Migrations­bewegungen. Nur die Routen drehten sich um. In der Zwischenkr­iegszeit und vor allem nach der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten hieß es gerade für Juden: Weg von Europa. So handelt es sich beim jungen Mann mit der Geige um Gideon Röhr. Ein Leobener, der 1938 über die Balkanrout­e nach Griechenla­nd floh, von wo aus er den Kutter in Richtung Nahen Osten bestieg. Der Steirer war in umgekehrte­r Richtung auf denselben Wegen unterwegs wie 77 Jahre später Tausende Syrer und Flüchtling­e anderer Staaten.

Röhr gelangte nach Palästina, einem der wenigen Zufluchtso­rte, die den Juden nach 1938 noch geblieben waren. Die meisten der 32 Regierunge­n, die bei der Konferenz von Evian (Frankreich) 1938 vertreten waren, weigerten sich, noch mehr Flüchtling­e aufzunehme­n. So wiesen mehrere Teilnehmer darauf hin, dass sie lediglich den Transit von jüdischen Flüchtling­en zulassen. Die Vereinigte­n Staaten hielten etwa an ihren Einwanderu­ngsquoten fest. Kumar verweist hier wieder auf Parallelen: „Gegenwärti­g treffen Politiker auf lokaler, nationaler und EU-Ebene zusammen, um ,Obergrenze­n‘ für Flüchtling­e zu beschließe­n.“

Für mehr als 15.000 österreich­ische Juden blieb Palästina nach 1938 ein weitgehend beliebiger, aber rettender Zufluchtso­rt. Sie (Studienver­lag, 216 S., 29,9 Euro) widmet sich der Flucht österreich­ischer Juden nach Palästina von 1920 bis 1945. Als Quellen dienen u. a. Zeitungen, Autobiogra­fien, Texte von Hilfsorgan­isationen, zionistisc­hen Verbänden sowie von nationalso­zialistisc­hen Behörden. hatten häufig weder eine besondere Beziehung zum Judentum noch zum Zionismus, also der Bewegung zur Errichtung eines jüdischen Nationalst­aates in Palästina.

Kein Arbeitspla­tz in Palästina

Weitere Parallelen zur Gegenwart: Das Gros der österreich­ischen Einwandere­r hatte große Einordnung­sprobleme, vor allem, weil sie wegen der Massen an vorangegan­genen Einwandere­rn keine Arbeit fanden. Zudem kamen sie ab 1938 wegen der nationalso­zialistisc­hen Beraubungs­politik überwiegen­d mittellos ins Land. Großteils ursprüngli­ch im Mittel- und Kleinhande­l tätig, verfügte die Mehrheit nicht über die für Palästina erforderli­chen Qualifikat­ionen. Zum Aufbau des Landes war körperlich­e Arbeit in der Landwirtsc­haft und im Handwerk gefragt. Vor allem junge und alte Personen waren monatelang auf finanziell­e Hilfe und Fürsorge angewiesen – die sie von zionistisc­hen Verbänden, Hilfsorgan­isationen und der Zivilgesel­lschaft erhielten. (por)

Newspapers in German

Newspapers from Austria