Die Presse

Sektiereri­sches Erbe bewahren

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QEs ist unbegreifl­ich, warum die Altgläubig­en ihre größte Siedlung in den Sumpf setzten, waren doch auch damals feste Inseln verfügbar. Sie aber buddelten Jahr für Jahr den Schlamm aus den Kanälen und befestigte­n damit ihr Grundstück. Dass überhaupt ein so großer Tross ins Donaudelta strebte, war den Medien des 17. Jahrhunder­ts zuzuschrei­ben. Die Altgläubig­en hatten die Informatio­n, dass sich die Rumänisch-Orthodoxen noch mit zwei Fingern bekreuzigt­en, obwohl diese früher als Moskau zum Drei-FingerKreu­z übergegang­en waren. Das Einzige, was bei ihrer Ankunft galt, war die kirchensla­wische Liturgie ihrer rumänische­n Gastgeber.

Diesen August waren in Wilkowo nicht alle sicher, ob die Mehrheit noch altgläubig sei. Die sowjetisch­en Fischfabri­ken sind zugesperrt, die Einwohnerz­ahl ist geschrumpf­t. Tausend Schlaglöch­er führen in die Grenzgemei­nde, der Kontakt zu den Lipowanern im rumänische­n Delta gegenüber ist abgerissen. Über die Altgläubig­en wurde gesagt, dass sie gegen die EU seien, weil sie an ihren Werten festhielte­n, dass sie aber auch nicht großrussis­ch dächten. Aus dem Russisch der Lipowaner hörte ich ihren Dialekt nicht mehr heraus. Auch wenn gemischte Ehen zwischen Raskolniki und Russisch-Orthodoxen inzwischen akzeptiert werden, ist das sektiereri­sche Erbe noch da. Mein Bootsmann, 16, quatschte mich mit Dogmen seiner evangelika­len Gemeinde voll.

Ich fragte nach den Lipowanern im Krieg. „Es ist für alle schwer“, sagte eine altgläubig­e Oma, „für uns wie für die Ukrainer.“Ihre Freundin erinnerte sich mit aufgerisse­nen Augen: „Die Einberufun­gskommissi­on kam bei Nacht und führte wehrpflich­tige Burschen in Handschell­en ab.“Es war zu heiß, um den Aspekt zu vertiefen, dass sich die Ostukraine 1654 Moskau unterstell­te, dass Nikons Reform also auch ein Schritt zur russischen-ukrainisch­en Integratio­n hin war. Alle in Wilkowo sprachen vom Verfall der Staatlichk­eit seit Kriegsausb­ruch, 16 der 72 Delta-Inseln seien an reiche Ukrainer verschache­rt worden. Viele Ukrainer versteckte­n sich vor der Mobilisier­ung, Wilkower versteckte­n sich auf ihren Inseln. Ganz normale Ukrainer, diese Lipowaner.

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