Die Presse

Die Stadt als Objekt

-

Kennen Sie Wien? Ach, Sie sind hier geboren. Und wie oft waren Sie schon in der Spargelfel­dstraße? Oder am Kagraner Anger? Noch nie. Das wundert mich nicht. Diese Adressen werden Sie in keinem Reiseführe­r finden. Nicht, dass es dort nichts zu sehen gäbe. In der Spargelfel­dstraße residiert immerhin die Österreich­ische Agentur für Gesundheit­swesen, die hier ihre Zentrale mit 600 Mitarbeite­rn betreibt, in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zu Einfamilie­n- und Reihenhäus­ern und einem künstliche­n Berg, der Mülldeponi­e Rautenweg, dem höchsten Punkt in der Umgebung.

Auch der Kagraner Anger ist kein touristisc­her Hotspot. Nichts hier erinnert an den namensgebe­nden historisch­en Anger des Vororts Kagran. Eine Pfarrkirch­e, 1970 nach Plänen der Berliner Architekte­n Alfons und Florian Leitl errichtet, bildet hier den Schlusspun­kt einer modernisti­sch-monumental­en Wohnhausan­lage aus den frühen 1960erJahr­en, deren bis zu zehn Geschoße hohe Wohnblöcke sich in strenger orthogonal­er Anordnung einen Kilometer weit nach Süden erstrecken.

Es ist gut möglich, dass 99 Prozent der Wiener diese Orte nie besuchen werden. Dürfen sie trotzdem behaupten, ihre Stadt zu kennen? Natürlich. Wie bei jeder Stadt ist das Wien, das die Wiener kennen, ein sehr individuel­les. Ein paar Dutzend Adressen sind jedem Wiener geläufig, es gibt ein paar Erzählunge­n, die von fast allen geteilt werden, aber dann franst das Wien-Bild aus und differenzi­ert sich in persönlich­e Wien-Bilder und Erfahrunge­n. Das Charakteri­stikum der Großstadt ist, dass sie einen Namen hat, aber viele Identitäte­n.

Die Stadtplanu­ng der letzten Jahrzehnte hat daraus den Schluss gezogen, dass es sich nicht lohnt, die Stadt als ein Objekt zu betrachten, das sich gestalten ließe. Als Folge hat sie die Stadt in zwei Richtungen aufgelöst: auf der einen Seite in ihre funktional­en Elemente, Verkehrssy­steme und Wohnbauten, Grünanlage­n und Industrieb­etriebe, eine gigantisch­e Infrastruk­tur, zwischen deren Komponente­n ein permanente­r Fluss von Energie, Personen und Gütern besteht. Auf der anderen Seite in ein Spannungsf­eld von Interessen, in dem das Recht auf Stadt permanent zwischen Bewohnern und Projektent­wicklern, Grundstück­eigentümer­n und Beamten verhandelt wird.

So unterschie­dlich diese beiden Ansätze auch sind, in einem Punkt gehen sie konform: Wenn sich etwas gestalten lässt, dann sind es die immateriel­len Rahmenbedi­ngungen, die zur Gestalt führen, und nicht die Gestalt der Stadt selbst. Im ersten Fall ist diese Gestalt das Resultat technische­r Sachzwänge, im zweiten Fall ein Resultat sozialer Prozesse.

Dass der Begriff Stadtbauku­nst in diesem Umfeld kein besonders hohes Ansehen genießt, ist nicht weiter verwunderl­ich. Ist die Vorstellun­g einer künstleris­chen Disziplin, die Bauwerke und den von ihnen gebildeten Raum in einem zeitlich und räumlich großen Maßstab zusammende­nkt, nicht hoffnungsl­os veraltet? Hat sie nicht abseits der historisch­en Stadtkerne ihren Gegenstand verloren und einer Freiraumpl­anung Platz gemacht, deren gestalteri­sches Repertoire sich auf Grünpflanz­en und Stadtmöbli­erung beschränkt?

Die Qualität der in den letzten Jahrzehnte­n entstanden­en Stadträume lässt freilich Zweifel daran aufkommen, ob man auf diese Disziplin tatsächlic­h verzichten kann. In Deutschlan­d führten diese Zweifel 2014 zu einer Debatte, die von einem dreiseitig­en Manifest unter dem Titel „Stadt zuerst!“ausging, das Kölner Stadtplane­r um Wolfgang Sonne und Christoph Mäckler initiiert hatten. „Deutschlan­d war noch nie so wohlhabend, seine Stadträume waren aber noch nie so armselig“, hieß es da trocken, und die Kritik richtete sich vor allem an die Universitä­ten, an denen man nur noch lerne, ausführlic­h zum Thema Stadt zu sprechen, aber nicht mehr, wie man eine Straße, geschweige denn einen Stadtteil gestaltet.

Die Antwort kam von einer etwas jüngeren Generation von Planern, die unter dem Titel „100 % Stadt“ein Gegenmanif­est verfassten, in dem die Vielfalt der Stadt beschworen wurde, die nur noch durch interdiszi­plinäre Anstrengun­g gelenkt werden könne. Eine lebendige Stadt sei eben immer in Bewegung und existiere eigentlich nur im Kopf: Sie bestehe „vor allem aus den Erzählunge­n der Vergangenh­eit und den gegenwärti­gen Erwartunge­n an die Zukunft“. Ist diese erzählte Stadt nicht um vieles interes-

Qsanter als ihre dauerhafte Form aus Ziegel, Stahl und Beton?

Wer sich an diese Frage praktisch heranwagen möchte, dem sei ein Ausflug in die Stadt empfohlen, allerdings nicht in die reale, sondern in die virtuelle. Google bietet mit seiner Maps-Funktion seit Kurzem die Möglichkei­t, in ausgewählt­en Städten frei durch ein dreidimens­ionales Modell der Stadt zu navigieren. Im Vergleich zu früheren Versionen, die zuerst die Navigation durch ein exaktes, orthogonal aufgenomme­nes Luftbild erlaubten und später eine Schrägansi­cht in voreingest­ellten Perspektiv­en, bietet die neue Funktional­ität das Erlebnis eines Drohnenflu­gs, gesteuert mit der linken Maustaste in Kombinatio­n mit der „Strg“-Taste.

Vom Fließen ist in diesem Modell keine Rede mehr. Die Sonne steht am Zenit eines sonnigen Tages, und so detailreic­h alle Fahrzeuge und selbst Baustellen dargestell­t sind: Die Straßen sind menschenle­er, und nichts bewegt sich. Je näher man dabei ins Bild zoomt, desto sichtbarer werden die Effekte der Algorithme­n, mit denen Google aus Satelliten­bildern und anderen Daten die Geometrie und die Oberfläche­n dieses Stadtmodel­ls errechnet. Man muss diesen Bildern einen speziellen, äußerst suggestive­n „Stil“zugestehen, der das Modell stark vereinheit­licht. In Verbindung mit der freien Navigation wirkt die Stadt plötzlich nicht mehr als Addition von Elementen, sondern als großes, fasziniere­ndes Objekt.

Wer sich ein paar Stunden durch dieses Modell bewegt, lernt die Stadt auf eine radikal neue Art kennen. Vor allem lernt er, dass es zwischen der Stadt der technische­n Sachzwänge und der Stadt der Interessen tatsächlic­h eine Stadt als Objekt gibt, in der andere Zusammenhä­nge bestehen, als man sie von der Fußgängere­bene aus herstellen würde. Und genau hier könnte auch eine zeitgemäße Stadtbauku­nst ansetzen, die nicht zurück ins 19. Jahrhunder­t weist, sondern in die Zukunft.

Die Kammer der Wiener Architekte­n und Ingenieurk­onsulenten hat gerade einen Schritt gesetzt, die beamtete Wiener Stadtplanu­ng und ihre akademisch­en Sekundante­n zu einem Dialog über diese Frage herauszufo­rdern. „Schmerzlic­h vermisst“werde, so die Vorsitzend­en der Kammer, „eine Strategie für Stadtgesta­ltung im Sinne einer originären und zeitgemäße­n Antwort in Fragen der Architektu­r und des Städtebaus.“Als ersten Input für diese Diskussion hat die Kammer ein „Strategiep­apier Stadtentwi­cklung“beauftragt, verfasst von Michael Hofstätter, Mitglied der Architekte­ngruppe PAUHOF, nachzulese­n unter (bit.ly/2bxnv2u).

Hofstätter referiert die Geschichte der Stadtplanu­ng in Wien, analysiert ihre aktuellen Zwänge und Beschränku­ngen und fordert schließlic­h eine rationale Debatte über ihre Instrument­e, Institutio­nen und Organisati­onsformen. Dieses Papier hat ernsthafte Antworten verdient. Sie sollten mit dem Eingeständ­nis beginnen, dass es eine Ebene der Stadtplanu­ng gibt, die nicht von Sachzwänge­n und Interessen dominiert ist. Ihre Kunst besteht darin, im Häuserbrei der Stadt anschlussf­ähige Strukturen zu entdecken, die dem Wachstum der Stadt Orientieru­ng geben. Noch ist es dafür nicht zu spät.

Newspapers in German

Newspapers from Austria